Denkmalkultur in Georgien
1. Das koloniale Ordnungsbild
1811 – zehn Jahre nachdem das expandierende russische Imperium das ostgeorgische
Königreich annektierte – wurde Philipp Paulucci (1779–1849), ein italienischer Marquis
in russischen Diensten, zum Befehlshaber in Georgien ernannt. Beim Besuch der Kathedrale
in Mc’xet’a, der alten Hauptstadt Georgiens, war er entsetzt über den Zustand der
georgischen Königsgräber. Die schlichten Grabplatten georgischer Könige empfand der
an Renaissancegräber gewöhnte Italiener Paulucci als verwahrlost (Abb. 1). Die monarchische
Grabkultur folgte in Georgien bis zum Ende des 18. Jahrhunderts den byzantinischen
Vorbildern: Die Könige wurden entweder in den von Monarchen gestifteten Klöstern
oder in der Kathedrale von Svetic’xoveli, der ‚sakralen‘ Hauptstadt Georgiens,
beigesetzt. Die Vollplastik war nach der orthodoxen Tradition weder innerhalb noch außerhalb
des kirchlichen Raums zugelassen.
Pauluccis Interesse für Ruhestätten erschöpfte sich aber nicht in der Kritik an den Königsgräbern.
Er ließ einen seiner Vorgänger, den in Baku gefallenen russischen Befehlshaber
Cicianov, einen gebürtigen georgischen Fürsten, aus Baku nach Mc’xet’a umbetten und
ihm in der Kathedrale von Svetic’xoveli ein Grabmal errichten. Damit begründete Paulucci
kulturelle Praktiken, die in Georgien eine ungeheuere Popularität erhalten sollten – die
postume Leichentranslation, die Errichtung von Grabdenkmälern und damit die Denkmalkultur
überhaupt.
Das nicht mehr erhaltene Grab Cicianovs ist in mehrerer Hinsicht aufschlussreich:
Erstens wurde damit die Tradition der Verehrung von Helden und Märtyrern der Kaukasuskolonisation
gestiftet. Zweitens bedeutete diese Umbettung, dass die ehemalige Ruhestätte
georgischer Könige nun durch einen Repräsentanten der russischen imperialen
Macht besetzt wurde. Schließlich begann mit diesem Grabmal die Umgestaltung des
öffentlichen Raums – eine Transformation, die sowohl die Löschung alter Bilder als auch
die Einführung neuer Formen visueller Repräsentation einschloss. Kurz darauf ordnete
die russische Regierung die Übermalung der georgischen Kirchenräume an, wodurch die
meisten mittelalterlichen Fresken vernichtet wurden. Da Georgien ebenso wie Russland
ein orthodoxes Land war, hatte diese Übermalung aber keinen religiösen Hintergrund, es
handelte sich vielmehr um eine koloniale Strategie, die auf die Löschung des visuellen
Gedächtnisses abzielte.
Die Einführung der Vollplastik im Kirchenraum, dem zentralen Ort öffentlicher Versammlungen
in Georgien bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, und später auch auf öffentlichen
Plätzen, lässt sich also im Kontext einer kolonialen Reform des öffentlichen Raums
betrachten, die sich gleichzeitig säkularer Formen der Erinnerung und der Repräsentation
bediente. Das erste Denkmal von Tbilissi, die Statue des kaiserlichen Statthalters,
Fürst Michail Voroncov (1866) (Abb. 2), die nach der Revolution demontiert wurde, sollte
eine neue Bilderordnung repräsentieren, die ihrerseits Zeichen einer neuen politischen
und gesellschaftlichen Ordnung war; aber gleichzeitig hatte es die Unwandelbarkeit und
Unvergänglichkeit dieser neuen Ordnung zu repräsentieren.
Zugespitzt lässt sich folgende These formulieren: Das Denkmal
als eine imperiale Repräsentation ersetzt in seinem Status als Ordnungsbild
bzw. Bild der bestehenden Ordnung das christliche Kultbild.
Denn wenn man die Bilderordnung als eine Zirkulation
der Bilder in einer Gesellschaft auffasst, die bestimmten (geschriebenen
oder ungeschriebenen) Regeln unterworfen ist,
dann kann man das Ordnungsbild einerseits als eine ‚Leitgattung‘ der visuellen Ordnung,
andererseits aber auch als eine bildliche Repräsentation dieser Ordnung bzw. des Nomos
(Carl Schmitt) einer Gesellschaft verstehen.
2. Das Mutter-Georgiens-Denkmal
Das Mutter-Georgiens-Denkmal von Elguja Amašukeli (1928-2002) wurde 1958 aus Anlass
des 1500-jährigen Jubiläums der Stadt Tbilissi errichtet und avancierte bald zu einem
zentralen Symbol nicht nur der Stadt, sondern des ganzen Landes (Bild 3). 1963 wurde die
ursprüngliche Holzstatue durch eine 30 Meter große Aluminiumstatue ersetzt. Das Denkmal
steht auf einem hohen Hügel und ist von der ganzen Stadt aus zu sehen. Eine junge,
in die Nationaltracht gekleidete Frau hält in der rechten Hand das gesenkte Schwert, in
der linken die erhobene Schale mit Wein. In Reiseführern erfährt man, dass die Mutter
Georgiens mit der Weinschale die Freunde des Landes begrüße, Feinden aber mit dem
Schwert begegne. Die Interpretation des Denkmals ist aber komplexer. Das Mutter-Georgiens-
Denkmal ist gleichzeitig eine Affirmation und eine Negation des kolonialen Ordnungsbildes.
Im Lichte des kolonialen wie auch des nationalen Diskurses wird das Denkmal
wie ein Palimpsest mit mehreren Schichten gegenseitiger Überschreibungen aus den
letzten 200 Jahren kolonialer und nationaler Geschichte lesbar.
Die Repräsentation eines Landes durch eine Frau ist ein alter Topos, der bis in die Antike
und noch ältere Schöpfungsmythen zurückreicht. Während die Nation üblicherweise
als Jungfrau allegorisiert wird, wird in der georgischen Repräsentation der Nation
gerade das Mütterliche hervorgehoben. Die Mutter übernimmt symbolisch die Funktionen
sowohl der Verteidigung als auch der Begrüßung der Gäste, die in einer patriarchalen
Gesellschaft traditionellerweise tatsächlich dem Mann obliegen. Interpretiert man
das Denkmal von dem Standpunkt des russischen kolonialen Mythos her, so wird an
Stelle des abwesenden Vaters – so die Literaturwissenschaftlerin Susan Layton – der russische
Gigant mit seiner eisernen Hand imaginiert. Sowohl das gesenkte Schwert als auch
das gesenkte Haupt der Statue unterstreicht den unterwürfigen Status der Mutter.
3. Die Umschreibung des kolonialen Mythos in der georgischen
Literatur
Der russische koloniale Diskurs wird im georgischen Diskurs des Nationalen Mitte des
19. Jahrhunderts aufgegriffen und im Zuge eines langen Prozesses übersetzt und mehr
oder weniger in sein Gegenteil transformiert. Ist im kolonialen Diskurs der georgische
Vater gänzlich abwesend und aus der Narration ausgeschlossen, so erscheint er beispielsweise
in einem epischen Gedicht des georgischen Romantikers Grigol Orbeliani (1804–
1883) als ein Toter: „Der Trinkspruch oder das Nachtfest nach dem Krieg in der Nähe Jerewans“
ist wie eine Reihe von Trinksprüchen strukturiert, die festliche Tafel wird dabei
zum Ort der Erinnerung an die Vorfahren, die ihr Leben für die Glorie des Vaterlandes
gelassen haben. Das Gedicht hat jedoch einen problematischen Kontext: Zum einen ist es
die Nachdichtung eines Gedichts von Vasilij Žukovskij (1783–1852), „Ein Sänger im Lager
russischer Krieger“, der darin die Siege der russischen Armee rühmt. Zum anderen stehen
die georgischen Protagonisten des Orbeliani’schen Gedichts im Dienste der russischen
Armee. Diese doppelte Einschreibung in die koloniale Situation unterstreicht die Ambivalenz
der Erinnerung: Es geht sowohl um die glorreiche Vergangenheit als auch ums
Trauern über die Gegenwart, die durch das Grab des vorletzten georgischen Königs Irakli
II. (1720–1798) symbolisiert wird: „Der Ruhm“ Georgiens sei „mit ihm begraben“. Bei
Orbeliani wird noch die Unentschiedenheit zwischen Affirmation und Negation des kolonialen
Diskurses sichtbar. Die Vaterfigur wird aufgespalten: Einerseits liegt der „Ruhm
Georgiens“ im Grab, andererseits wird aber die verlorene Vaterfigur im russischen Zaren
Nikolaus I. wiedergefunden. Dieser solle Georgien „die alten Tage, die Tage des Ruhmes“
zurückbringen. Mit Blick auf das Gedicht Orbelianis wird die Schale, die die Mutter Georgiens
in der Hand hält, zu einem Symbol, das für ein Totenfest des Gedenkens an den toten
Vater steht. Nun kann im nächsten Schritt nicht nur die Schale, sondern auch das Schwert
noch einmal umgedeutet werden: Mit dem Schwert wird neben der Pathosformel der
Trauer auch die Pathosformel der Rache aktiv.Diese Verschiebung wird in Gedichten von
Ilia C ˇ avcˇ avaje (1837–1907), Dichter, Politikerund informeller Führer des georgischen
Risorgimento, sichtbar. In „Der Geist“erscheint der Vater ebenfalls als Toter, hat
aber den Ort seiner ewigen Ruhe verlassen:
„Immer und Ewig, Georgien, bin ich mit
Dir/Ich bin der unsterbliche Geist, der Dirimmer beistehet.“
Anders als bei Orbelianiwird der Geist des Vaters nicht nur betrauert, sondern er mahnt zur Rache. Ein Held soll wieder geboren werden, der durch seinen Opfertod das Vaterland befreit. Dem Tod dieses
Helden ist ein anderes Gedicht, „Die Mutter Georgiens“, gewidmet, das den signifikanten
Untertitel „Eine Szene aus der Zukunft“ trägt. In dieser Zukunft hat der Kampf um die
Befreiung des Kaukasus bereits begonnen. Die Mutter schickt ihren einzigen Sohn für den
Sieg des Vaterlandes in den Opfertod. „Für diesen Tag habe ich Dir, Vaterland, meinen
Sohn erzogen/habe ihm das Leben gegeben, damit er für Dich sterben kann“. Anlässlich
des Todes ihres Sohnes empfindet die Mutter nicht nur Trauer, sondern auch Seligkeit.
„Ich bin sowohl deine Mutter“ – sagt sie ihrem Sohn – „als auch Mutter Georgiens./Als
deine Mutter werde ich um deinen Tod trauern /Als Mutter Georgiens werde ich die Seligkeit
und den Ruhm erlangen“. Vor diesem Hintergrund kann man das Mutter-Georgiens-
Denkmal auch anders interpretieren: So steht der Mutter Georgiens nicht der Kolonialherr
zur Seite, sondern der tote Vater. Außerdem wird ein in die säkulare Sprache
übersetzter eschatologischer Kampf für die Freiheit deutlich, in dessen Zentrum der Tod
und die Auferstehung eines nationalen Messias stehen.
4. Das nationale Ordnungsbild
Das Mutter-Georgiens-Denkmal gehört in die Nähe zweier weiterer Denkmäler, die den
nationalen Diskurs weiterführen. Das Denkmal kidewaz daisrdebian (Sie werden noch erwachsen)
von Merab Berjenišvili (geb. 1929) (Abb. 4) stellt eine Frau mit zwei kleinen
Söhnen dar, die das übergroße Schwert halten. Das Denkmal lässt sich ebenfalls im Kontext
der C ˇ avcˇ avaje’schen Narration lesen, verweist aber explizit auf ein Volksgedicht: „Die
Wolfsjungen von Alget’i/werden noch erwachsen/sie werden nicht sterben/ohne
sich an dem Feind gerächt zu haben.“ Auchhier ist der Kampf in eine imaginierte Zukunft
verlagert, in der die Söhne an die Stelle des abwesenden Vaters treten sollen.
Das dritte Denkmal dieser Reihe ist dasvon dem Rodinschüler Iakob Nikolaje (1876–1951) geschaffene Grabdenkmal fürIlia C ˇ avcˇ avaje im Pantheon von Mt’acmindain Tbilissi (Abb. 5). Auf dem als „Das trauernde Georgien“ bekannten Grabdenkmal ist eine im Profil dargestellte Frau zu sehen,
die einen Lorbeerzweig in der Hand hält.
Ein Lorbeerzweig in seiner pluralen Symbolik
des Friedens, der Unvergänglichkeit sowie des Triumphes wird hier zu einem Kommentar
zum C ˇ avcˇ avaje’schen Gedicht „Die Mutter Georgiens“. Einerseits trauert die Mutter um
ihren gefallenen Sohn, anderseits wird sein gewaltsamer Tod im Sinne des bereits zitierten
Gedichtes als Opfertod und damit auch als Triumph gedeutet.
Die Symbolik des Lorbeerzweigs wurde nach der Wende 1990 ein weiteres Mal aufgegriffen.
Kurz nach der Unabhängigkeitserklärung 1991 nahm der Bildhauer Amašukeli am
Mutter-Georgiens-Denkmal eine entscheidende Veränderung vor (Abb. 6).
Die Mutter Georgiens
hat in dieser Neuauflage ihr zuvor demütig gesenktes Haupt erhoben, und kann
nun stolz in die Zukunft blicken. Darüber hinaus hat der Bildhauer ihr Haupt mit einem
Lorbeerkranz geschmückt. Der Lorbeer in seiner ambivalenten Symbolisierung des Todes
und des Triumphes ist zu einem eindeutigen Zeichen des Triumphes geworden. Der Lorbeerkranz
stellt zudem eine Verbindung zwischen Ilia C ˇ avcˇ avaje und der Mutter Georgiens
her.
Das Ilia C ˇ avcˇ avaje-Denkmal in Batumi (Abb. 7)
zeigt den thronenden Dichter, zwei weibliche
Figuren halten einen Lorbeerkranz über seinen Kopf. Der tote Dichter, den das Grabmal
als einen für das Vaterland gefallenen Sohn darstellt, wird hier als Triumphator, als
ein pater patriam repräsentiert. Die Mutter Georgiens wird damit zu einer Mutter des säkularisierten
gekreuzigten und auferstandenen Messias, des Retters des Vaterlandes transformiert.
Das Mutter-Georgiens-Denkmal ist als Antwort auf einen Machtanspruch und Anspruch
auf die unwandelbare Dauer lesbar, Ansprüche, die sowohl vom kolonialen Diskurs als
auch von der kolonialen Bildordnung erhoben wurden. Die Abwesenheit des männlichen
Protagonisten im kolonialen Diskurs wird im nationalen Diskurs in eine Abwesenheit
des Vaters konvertiert, der zunächst als tot und dann als auferstanden imaginiert wird. Im
Sujet der Auferstehung werden christliche Kategorien auf die politische Geschichte übertragen.
1801 wurde der Verlust der Unabhängigkeit mit Martyrium und Tod symbolisiert,
1990 ihre Wiedererlangung mit der Auferstehung. Die „Personifizierung“ des Landes wird
dabei zwischen der Vater- und Mutterfigur aufgespalten: In der nationalen Umdeutung
des kolonialen Diskurses repräsentiert die Mutter Georgiens den toten Vater, die beiden
Figuren werden aber nach der „Auferstehung“ amalgamiert und bilden eine Einheit. Die
christliche Kodierung der Auferstehung erlaubt es, die Wiedererlangung der Unabhängigkeit
als triumphales und zentrales Ereignis der georgischen Geschichte zu feiern.
Wenn im nationalen Diskurs des 19. Jahrhunderts der Kampf für die Freiheit in seiner
säkularisierten Form die Züge des zukünftigen eschatologischen Kampfes erhielt, so
scheint in der Neuauflage des Mutter-Georgiens-Denkmals sowie im Ilia Cˇavcˇ avaje-
Denkmal in Batumi diese Zukunft bereits eingetreten zu sein.
5. Das nationale Ordnungsbild und der Stalinkult
Was aber verbirgt sich hinter dieser neuen Ordnung? Das Mutter-Georgiens-Denkmal
versucht einerseits den Sieg im Kampf mit dem kolonialen Diskurs und Ordnungsbild zu
feiern, aber andererseits auch seinen eigenen, vom kolonialen Ordnungsbild geerbten
Machtanspruch zu postulieren. In historischer Perspektive wird dieser Machtanspruch in
der Stalinfigur sichtbar, die in das nationale Pantheon integriert wurde.
Die Zeitung Prawda bezeichnete Stalin am 12. April 1936 als den Vater aller Völker der
UdSSR und leitete damit den Stalinkult ein. Diese Erhebung Stalins zur Vaterfigur bedurfte
allerdings sowohl einer historischen Legitimation als auch der Mythologisierung
und Heroisierung. In Russland wurde Stalin in die imperiale Tradition eingeschrieben.
Der Kult des politischen Führers knüpfte an den Zaren Peter I. an, der 1721 neben dem
Titel des Kaisers auch zum pater patriam ausgerufen wurde. In Georgien dagegen wurde
Stalin in die Tradition der nationalen Narration Ilia C ˇ avcˇ avaje eingeschrieben und stellte
ihn damit implizit als den ersehnten nationalen Messias dar, der dem kleinen Vaterland
zu Weltruhm verhelfen sollte. Diese Einschreibung fand ihren symbolischen Ausdruck in
der Beisetzung von Ekaterine Jug˘ ašvili , der Mutter Stalins, im Pantheon von
Mt’acminda, dem Friedhof, der die prominentesten Figuren der georgischen Geschichte
des 19. und des 20. Jahrhunderts versammelt, unter anderen auch Ilia C ˇ avcˇ avaje.
Interessanterweisewurde Stalins Mutter, anders als andere dort beigesetzte Protagonisten der
georgischen Sowjetgeschichte, nach dem Zerfall der UdSSR nicht umgebettet. Ihr Status
im säkularen Pantheon der georgischen Geschichte als Double der Mutter-Georgiens
wurde damit stillschweigend anerkannt. Das neue Ordnungsbild bedeutet somit auch die
implizite Affirmation des Stalinkultes.
6. Semantiken des Denkmalsturzes
Der Machtanspruch des neuen Ordnungsbildes hat aber noch zusätzliche Implikationen.
Die Auferstehungsmetapher hat neben einer starken christlichen Konnotation auch die
der Rückkehr eines Untoten, eines Revenants. Die Phantasmen, die mit der Rückkehr des
Denkmals als Revenant verbunden sind, werden in den Sujets des steinernen Gastes (etwa
im Sujet des Don Juan oder des Puškin’schen „Ehernen Reiters“, der die Machtansprüche
der Statue auf die Spitze treibt) sichtbar. In diesem Sujet kommt die Statue zurück, um die
erschütterte Ordnung, die sie repräsentiert, wiederherzustellen. Anders als in der christlichen
Auferstehungsmetapher wird in diesem Sujet nicht das Lebendig-, sondern das Totsein
akzentuiert. Dieses Totsein ist sakral kodiert und wird damit unantastbar. Die autoritäre
Autorität des Ordnungsbildes schützt die Ordnung, die es repräsentiert. Jeder, der die
Ruhe dieses Toten zu stören wagt, wird zu einem Grabschänder. Die Phantasmen der
Grabschändung und der mit ihr verwandten Praktik des Denkmalsturzes bekommen damit
die Implikation der Rebellion gegen den Machtanspruch des Ordnungsbildes.
Ein letztes Beispiel führt die historische Perspektive mit einer Menge theoretisch
möglicher, aber nicht immer realisierter Entwicklungsmöglichkeiten des Denkmalsujets
zusammen. In dem Film Die Reue (1987) von Tengiz Abulaje (1924–1994) wird der Diktator
Varlam Aravije, für den Lavrenti Beria, ein prominenter Vertreter des Stalinregimes,
das Vorbild abgibt, feierlich beigesetzt. In der Grabrede wird er als ein verdienter Staatsmann
gefeiert, jedoch gleich in der ersten Nacht nach der Beerdigung wieder ausgegraben.
Der anonyme Grabschänder subvertiert damit das Paradigma des Denkmals. Zum
einen wird die Heterotopie des Friedhofs (Foucault) in den ‚normalen‘ öffentlichen Raum
verlegt, wenn die Familie die Leiche vor dem Haus findet. Zum anderen wird die säkularisierte
Figur der Auferstehung, die in der nationalen Narration zum Zeichen des Triumphes
wird, anders ausgelegt, indem sie nicht auf das christliche Sujet der Auferstehung verweist,
sondern auf das mythologische Sujet der Rückkehr eines Untoten. Nach der erneuten
Beerdigung wird die Leiche wiederum ausgegraben. Diese Serie der Beerdigungen und
Exhumierungen dauert fort, bis eine Frau von der Polizei gefasst wird. Die Täterin ist die
Tochter eines Malers, der zusammen mit seiner Frau den Repressionen des Diktators
Varlam Arawije zum Opfer fiel. Der Gerichtsprozess der Leichenschänderin verwandelt
sich in einen Prozess gegen den toten Diktator und die Erinnerung an ihn. Der Enkel des
Diktators, der die Wahrheit nicht ertragen kann, nimmt sich das Leben, sein Sohn gräbt
schließlich eigenhändig seinen Vater aus und entsorgt die Leiche. Das Grab wird im Film
in seiner Funktion als Erinnerungsträger problematisiert. Der Akt der Leichenschändung
führt das Grab und das Denkmal ein weiteres Mal zusammen und zeigt das Grab nicht als
Träger der Erinnerung, sondern als Symbol der Verdrängung eines Verbrechens. Die
„erzwungene Erinnerung“, die den Anspruch erhebt, zum Gedächtnis in der von ihr vorgeschriebenen
Form zu werden, wird von der „alternativen“ Erinnerung in Frage gestellt.
Die Exhumierung der Leiche und ihre Platzierung im öffentlichen Raum persifliert das
Paradigma des Denkmals und lässt es als das erscheinen, was es eigentlich ist: die Ausstellung
eines toten Körpers, die den Anspruch erhebt, seine Macht über die Lebenden auszuüben.
7.
Das semantische Feld des Grabes und des Denkmals als seiner metaphorischen Form impliziert
die Appellstruktur (W. Iser) des Denkmals, seinen Anspruch auf die als eine unwandelbare
Dauer verstandene „soziale Ewigkeit“. Gerade durch diese Appellstruktur ist
das Denkmal aber von dem sozialen Umfeld und letzten Endes von der Anerkennung abhängig.
Das im neuen Ordnungsbild sichtbar werdende Georgien repräsentiert durch die
gegenseitig substituierbaren Mutter- und Vater-Figuren eine neue Ordnung; und damit
auch eine bestimmte Sicht der nationalen Narration, die aber schnell in eine nationalistische
Narration umschlagen kann. Das gedächtnistheoretische Problem der Appellstruktur
des Denkmals gewinnt dadurch an neuer Aktualität. Wie jede Ordnung arbeitet auch
diese mit Inklusionen und Exklusionen, und als Erinnerung hängt sie ebenfalls mit Mechanismen
der Verschiebung, Verdichtung und Verdrängung zusammen. Damit wird das
neue Ordnungsbild zwar zu einem Symbol der Unabhängigkeit, allerdings einer Unabhängigkeit,
die nicht etwa mit der Freiheit von einer bestimmten und bestimmenden Vergangenheit
gleichzusetzen ist. Diese bestimmte und bestimmende Erinnerung, repräsentiert
durch die Figur des auferstandenen Vaters, wird zu einem non du père (Lacan) für
andere Erinnerungen, zu einem Verbot, das das Gesetz und die Ordnung der Erinnerung
diktiert. Die Erinnerung wird damit zu einem Gegenteil des Gedächtnisses, das die Totalität
aller Erinnerungen enthält. Ein Ordnungsbild symbolisiert aber nur eine Erinnerung,
die sich für das ganze Gedächtnis ausgibt. Damit wird das Denkmal zu einem Symbol einer
„erzwungenen Erinnerung“ par excellence.
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