Thursday 16 October 2008

Vaterlandsreligion georgischer Dichter



1987, kurz vor dem Zerfall der UdSSR und nach dem Wiederaufleben der nationalen Bewegung, hat die georgische orthodoxe Kirche den Schriftsteller und Politiker Ilia Tschawtschawadse (1837-1907) als „Ilia den Gerechten“ kanonisiert, Galionsfigur georgischer Nationalbewegung, Gründer zahlreicher nationaler Einrichtungen (der Gesellschaft für Verbreitung des Lesens und Schreibens unter den Georgiern, der Grundbesitzerbank, der historisch-ethnographischen Gesellschaft) sowie mehrerer georgischsprachiger Zeitungen und Zeitschriften, - wobei die Nachwirkugn seienr mythopoetischen Tätigkeit ungleich größer ist als die seiner umfangreichen politischen Aktivitäten. Achtzig Jahre zuvor, 1907, war er einem Attentat zum Opfer gefallen, als dessen Verantwortliche sowohl georgische Kommunisten als auch die zaristische Geheimpolizei „Ochranka“ verdächtigt wurden. Er ist im Pantheon von Mtazminda, der Grabstätte der prominentesten Georgier, mit höchsten Ehren beigesetzt worden, nachdem er bereits zu Lebzeiten er als „ungekrönter König Georgiens“  ‚kanonisiert’ war. Die Motive seiner Heiligsprechung und seiner Bezeichnung als Märtyrer rekurrieren auf eine ganze Archäologie von Heiligen-, Heroen-, Herrscher- und Märtyrerfigurationen.   

 

Schon im ersten erhaltenen Werk der georgischen Literatur, dem Martyrium der heiligen Königin Schuschanik (V. Jhd.) spielte das Thema des Martyriums in der Religionskultur und der politischen Kultur Georgiens eine prominente Rolle. In der georgischen Geschichtsschreibung bildet die Bezugnahme der Politik auf das ‚Martyriums für das Christentum’ eine Konstante: eine Art Metasujet, mit dessen Hilfe jeder politische Konflikt mit einem äußeren Feind in die Kategorien des Martyriums übersetzt und damit das Land selbst zum Märtyrer stilisiert wurde. Damit wurde der georgischen Geschichte ein eschatologischer Sinn zugechrieben. Motor für die ständige Reproduktion des Motivs war das Bild eines überlegenen, andersgläubigen politischen Gegners, - was durch die Jahrhunderte hindurch durch die geographische Lage eines durch islamische Staaten umgebenen Landes begünstigt wurde. Diese Konfiguration versagte allerdings in der politischen Auseinandersetzung mit dem ebenfalls orthodoxen Russland nach dem Anschluss an das Zarenreich, mit dem Georgien 1801 seine Staatlichkeit verlor.

 

Es hat 60 Jahre gedauert, bis Ilia Tschawtschwadse das tradierte Sujet in seinen poetischen Werken (Das Gespenst, Die Mutter des Georgiers, König Demeter der Selbstaufopferer“ etc.) im Kontext der Säkularisierung modifiziert hat, - einer Säkularisierung, in der die Zurückdrängung der Orthodoxie als identifikatorisches Merkmal mit einer Sakralisierung des Nationalen einherging. Mit dem Begriff patria griffen Ost- und Westchristentum auf das gleiche Erbe zurück. Nachdem die antike Vorstellung des pro patria mori (Heroisierung der für das Vaterland gefallen Helden bis zur Vergöttlichung) im frühen Christentum durch das Paradigma des „einmaligen und vollkommenen Opfer’, als das Sterben des Gottessohnes gedeutet wird, ersetzt worden war, kehrten die klassischen Gefühlswerte der Patria wieder: im Westchristentum - wesentlich durch die Kreuzzüge bedingt - im 12. und 13. Jahrhundert, in Byzanz und Georgien etwas früher, „indem die Vorstellung vom „Vaterland“ […] die alten Stadtgrenzen überschritten und sich auf nationales Königsreich, oder auf die ‚Krone’ als das sichtbare Symbol einer nationalen und territorialen Gemeinschaft beziehen konnte“, wie Ernst Kantorowicz schrieb. Während, wie er gezeigt hat, die Säkularisierung sich im Westen als Übertragung des Begriffs corpus mysticum auf das Volk und „Vaterland“ vollzog, blieb dagegen im Ostchristentum allein der König, nicht das „Vaterland“ Träger des Sakralen. In Georgien war diese Position bis zur Abschaffung des Königtums durch Russland 1801 unangefochten. Insofern entstand Anfang des 19. Jahrhunderts eine Situation, die einer Neudeutung der patria bedurfte.

 

Es war Ilia Tschawtschawadse, der darauf antwortete, indem er das Verhältnis des Politischen zum Sakralen neu deutete und eine ‚Vaterlandsreligion’ entwarf. Sein Gesamtwerk ist diesem Metasujet gewidmet. Darin wurde das Christentum durch das Vaterland ersetzt und die Selbstaufopferung für das Vaterland - als höchste Form des dem Vaterland zu erweisenden Dienstes - zur zentralen Tugend, obersten Pflicht und zum Ziel eines jeden mamulischwili (Sohn des Vaterlands) erklärte. Dafür spielte nicht nur der Rückgriff auf das Paradigma des christlichen Martyriums eine wichtige Rolle, sondern auch der auf die weiter zurückreichende, grundlegende Verknüpfung von Heiligen und Opfer: das Opfer in seiner Bedeutung als gemeinschaftsstiftende Konstituente der Nation in einem eschatologischen Kampf. Die Apotheose des mamulischwili setzte sein Martyrium sowie den freiwilligen Tod für das Vaterland voraus, machte ihn zum Heroen und eröffnete ihm den Weg in das ‚himmlische Georgien’, eine Art säkulares Paradies, mit dem die Unsterblichkeit in die Geschichte verlagert wird.

 

Im der von Tschawtschawad entworfenen Vaterlandsreligion hat der Dichter die Erbschaft des Königs angetreten, - anders und später als in Westeuropa. Dort war die Gleichsetzung des Dichters, später des Künstlers und Intellektuellen mit dem Souverän der Entwicklung der politischer Theorien des Hoch- und Spätmittelalters einhergegegangen, wobei die spätestens seit Dante bekannte aequiparatio des Dichters mit dem Souverän nicht nur auf antike Beispiele zurückgeht, sondern auch auf das römische resp. das justinianische Recht zurückgeht. Anders als in der europäischen Aufklärung, in der die Dichter einen Kampf gegen Hof und Kirche ausfochten, mußte dieser Kampf in Georgien nicht ausgefochten werden, da die Figur des Dichters (in einem breiteren Kontext des Intellektuellen) seit Beginn des 19. Jahrhunderts den leer gewordenen Platz des Königs besetzte. Im Unterschied zum Mythos der georgischen Königsdynastie knüpfte diese Position des Dichters nicht an den biblischen König David, sondern an Moses bzw. an die Tradition biblischer Propheten an. Dabei beanspruchte die Figur des Dichters nicht nur die Führung des Volkes: „Ich spreche mit dem Gott, um das Volk zu führen“, so Ilia Tschawtschawadse in Der Poet. Der Dichter wurde auch zum pontifex maximus des Vaterlandes bzw. der Vaterlandsreligion, - eine Formel, die bis ins späte 20. Jahrhundert die georgische Vorstellung von einer Sakralität des Künstlers prägte. Vor diesem Horizont ist es kaum zufällig, dass Ilia Tschawtschawadse in seinem Heldengedicht auf das Martyrium des König Demetre II. zurückgriff, der den Beinamen Selbstaufopferer trägt: Das Martyrium für das Volk und Vaterland wurde damit als höchste Pflicht des obersten mamulischwili gedeutet.

 

Mit der Vaterlandsreligion hat Ilia Tschawtschawadse ein bis heute wirkmächtiges säkulares, gleichwohl religiös grundiertes Deutungsmuster für die georgische Geschichte und Nation geschaffen, - zugleich aber auch ein Modell, das seinem eigenen Leben und Tod die Bedeutung des Martyriums für das Vaterland verleihen konnte. In der Predigt zu seiner Kanonisierung am 2. August 1987 machte der georgische Patriarch Ilia II. den Dichter und Märtyrer Ilia Tschawtschawadse zum Protagonisten eines eigenen Motivs, indem er dessen Leben und Tod im narrativen, rethorischen Schema einer Kette von Dichter – Prophet – König – Märtyrer – Heiland deutete. Durch diese Heiligsprechung wurde die Säkularisierung des Märtyrersujets vollendet, indem die orthodoxe Kirche selbst in den Dienst der ‚Vaterlandsreligion’ trat und sie zugleich in ihre eigene Tradition einschrieb.

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