Friday, 17 October 2008

Kollektive Integrität als Integrationshindernis.Aluda im Spiegel von Muzal


Die Integritätstheorie Axel Honneths[i] geht von einem Modell aus, das auf moderne Demokratien zugeschnitten ist.[ii] Daher mögen die Texte, die ich zur Illustration des dilemmatischen Verhältnisses zwischen Integrität und Integration ausgewählt habe, auf den ersten Blick befremdlich er­scheinen. Wascha-Pschawelas Aluda Keltelauri[iii] (1888) handelt von einem Konflikt zwischen christlichen und moslemischen Stämmen des Kaukasus, und auch die postmoderne Bearbeitung des­ Sujets im deutschsprachigen Roman Muzal (1991) von Giwi Margwelaschwili, die unter anderem als eine Parabel der Dissidenzbewegung in der UdSSR gelesen werden kann, hält sich politisch[iv] im Rahmen eines vor- und außerstaatlichen Kommunitarismus. Nun wird aber in der politischen Philosophie und Soziologie des Kommunitarismus, wie in der Rechts- und Staatsphilosophie Hegels, ebenfalls auf vormoderne bzw. nichtstaatliche Gemeinschaftsformen zurückgegriffen,[v] die ihre Integri­tät behaupten — im Kommunitarismus mit dem erklärten Ziel, das erforderliche Maß an Gemein­schaftlichkeit in den heutigen Gesellschaften auszuleuchten.[vi] Der gravierende Unterschied besteht darin, dass bei Hegel die gesellschaftliche Entwicklung auf Staatlichkeit angelegt ist, die kommunitaristischen Theorien dagegen von der Persistenz nichtstaatlicher Gesellschaftsformen in der Staatlichkeit ausgehen. Deswegen glaube ich nicht anachronistisch zu verfahren, wenn ich im Folgenden die sozialen und nicht die politischen Aspekte der kollektiven Integrität in den Vordergrund stelle. Am Beispiel von Aluda Kete­lauri möchte ich das exklusionistische Integritätsmodell eines Kollektivs illustrieren, das in der Bearbeitung von Giwi Margwelaschwili in ein inklusionisti­sches “Anerkennungsmodell” umgewandelt wird. Die postmoderne Transformation verlagert zugleich den Akzent von einer statischen Ordnung, für die Integrität im Sinn der Unverletzlichkeit beansprucht wird, auf die Integration als Prozess.

 

1. Kollektive Integrität

Unter welchen Bedingungen kann ein Kollektiv als inte­ger im Sinne eines begründeten Anspruchs auf seine Unverletzlichkeit bezeichnet werden? Die Begründung des Anspru­chs auf Unverletzlichkeit der Kollektive wird innerhalb der Liberalismus/Kommunitarismus-Debatte aus zwei ontologisch gegensätzlichen, entweder atomistischen oder holistischen, Positionen vorgenommen:[vii] Der Kommunitarismus stellt die Sicherung kollektiver Identi­täten[viii], der Liberalismus das Recht auf gleiche individuelle Freiheit[ix] bzw. die Sicherung personaler Integrität in rechtlicher Hinsicht in den Vordergrund. Im ersten Fall wird das Kollektiv als ein “mögliche[r] Ort der Wir-Identitäten”[x] gegenüber bloß konvergenten “Ich-Identitäten”[xi] angesehen und geschützt. Bei der Definition des Kollektivs greift der holisti­sche Ansatz, der heutzutage mehrheitlich vom Kommunitarismus vertreten wird, auf den Begriff der Gemeinschaft zurück.[xii] Für die Begründung des Anspruches auf Unverletzlichkeit hat dies den Wert, dass aus kom­munitaristischer Perspektive die “soziale Integration von Gesellschaften nur dann “angemes­sen” oder “richtig” vor sich geht, “wenn deren Mitglieder statt nur über Rechtsbeziehungen auch durch gemeinsame Wertorientierungen aufeinander bezogen sind”.[xiii] Aus dieser Position kann die liberale (individualistische) Gesellschaft als “das genaue Gegenteil von Gemein­schaft,” die “eine Heimstatt für Zusammenhaltung, Bindung und Erzählvermögen” sein soll,[xiv] erscheinen, als eine Gemeinschaft von “Fremden”.[xv] Während die Subjekte aus atomistischer Sicht frei sind, ihre gemeinsamen Ziele unabhängig von sozialen Regelungen festzulegen, sind sie aus holistischer Sicht in “konstitutive Gemeinschaften” eingebettet[xvi] und gehalten, diese Einbettung aufrechtzuerhalten, so dass “die Identität jedes Einzelnen mit der des Kollektivs untrennbar verbunden oder gar in ihr aufgehoben ist”.[xvii] Unter dieser Voraussetzung könne das Kollektiv als ein “wider subject”[xviii] verstanden werden, das die Form “konstitutiver Gemeinschaften” wie “family or tribe or city or class or na­tion or people” annimmt.[xix]

Argumentiert man vom Standpunkt der holistischen Positionen aus, dann kann das Kollektiv als ein “Ganzes” betrachtet werden und als solches einen Anspruch auf seine Unverletzlichkeit erheben. Der “Einzelne” hat sich dem Ganzen, d.h. dem Kol­lektiv und seinen identitätsbildenden Lebensformen und Traditionen ein- und gegebenenfalls unterzuordnen.[xx] Wird das Subjekt als Individuum durch die Gemeinschaft konstituiert, dann kann man “nicht mehr sinnvoll von einem unabhängig von der Gemeinschaft existieren­den Subjekt sprechen.”[xxi] In extremen Verfassungen oder auch Lagen kann die Gemein­schaft durch eine Einheitlichkeit der Ziele und Werte statt durch deren Pluralität konsti­tuiert werden.[xxii] “Partikulare Loyalitäten”[xxiii] dieser Art strukturieren die Welt dichotomisch in den Kategorien eigen/fremd und können in Konflikt mit der Moralität des unparteiischen Ur­teils aus universalistischer Perspektive geraten. Im Konfliktfall wird das “Überleben” der “besonderen Gemeinschaft” zum obersten Ziel erklärt; die Gemeinschaft fordert von ihren Mitgliedern die rückhaltlose Wahrnehmung und Verteidigung ihrer Interessen, was die Bereitschaft einschließt, “für seine Gemeinschaft in den Krieg zu zie­hen”, auch wenn es sich etwa um einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg handelt.[xxiv] Die Missachtung des Anspruchs eines solchen Kollektivs auf Unverletzlichkeit entspräche einerseits der Missachtung seiner Vor­stellungen vom guten Leben, und andererseits der Verletzung seiner Einheitlichkeit bzw. Ganzheit, wobei das “Überleben” als oberstes Ziel der Gemeinschaft nicht nur die Verteidigung der Integrität nach au­ßen (sei es im Anerkennungskampf einer Minorität,[xxv] sei es im Kampf um die Lebensres­sourcen[xxvi]), sondern auch nach innen implizierte.

Im konsequent atomistisch-liberalistischen Modell beschränkt sich die Gewährleistungsfunktion des Rechts auf die Gewährleistung personaler Integrität, so dass sowohl die Gesellschaft gegenüber ihren Mitgliedern als auch die Mitglieder gegenüber der Gesellschaft in einem rein formalen Rechtsverhältnis stehen. Dies hat neben den aus kommunitaristischer Sicht bereits angedeuteten Nachteilen auch beträchtliche Vorteile, auf die ich hier nicht weiter eingehen kann und muss,[xxvii] die aber die Frage nahe legen, ob sich das kommunitaristische Interesse nicht auch auf der Basis von Gesetz und Recht — sei’s auch im weiteren Sinn — statt auf der Basis von Ganzheitsvorstellungen wahrnehmen lässt. Welche Rolle spielt im gemäßigten Kommunitarismus das Recht bzw. das Gesetz? Die moderat kommunitaristische Position von Charles Taylor geht vom Gesetz und von den “Institutionen” mit ihren “Verfahren”[xxviii] statt von der Ganzheit des Kollektivs aus. Das Gesetz wird demnach als “Identifikationspol” und “Inbegriff der zentralen Institutionen und Verfahren des politischen Systems” interpretiert, die jedoch ihrerseits “als Gemeingut betrachtet und gepflegt” werden, weil alle Beteiligten in ihnen Quelle und Schutz ihrer Würde sehen.[xxix] Dieser Positionsnahme scheint nichts mehr hinzuzusetzen zu sein. Wenn ich mir gleichwohl im Folgenden erlaube, Taylors Basisannahme in einer kommunitaristisch verschärften Form zu benutzen, erfolgt dies aus heuristischen Gründen, nämlich in der Absicht, einen theoretischen Rahmen für den Stellenwert und die Analyse traditionaler Gesellschaften sowie für die sich mit ihnen befassende Textinterpretation zu gewinnen. Das “Gesetz” soll dabei differenzieller ausgelegt werden: Es fungiert nicht nur als “Identifikationspol” des politischen Systems, sondern ist auch als Identifikationspol der Gesellschaft im Sinn der “Zivilgesellschaft”[xxx] sowie als Identifikationspol der gegenseitigen Anerkennung von Subjekten, Personen oder Individuen aufzufassen. Letztere sind mit bestimmten Rechten ausgestattet, jedoch nicht durch “höhere” Instanzen des politischen Systems resp. des Staates,[xxxi] sondern durch konkurrierende Instanzen der Religion, der Sitte, der Tradition, der Ökonomie und der Moral. Vor allem verstehe ich das Modell nicht evolutionistisch — als eine Stufe, die zur staatlichen Organisation führt —, sondern als ein Modell nichtstaatlicher Organisation,[xxxii] die zeitlich vor dem Staat, parallel zum Staat und im Staat zur Vergesellschaftung führen kann und führt. Das “Gesetz” oder Recht ist nach diesem Modell so zu verstehen, dass die “wechselseitigen Verpflichtungen”[xxxiii] nicht notwendigerweise als solche artikuliert sein müssen. Auch die Anerkennungsformen müssen nicht notwendigerweise rechtsstaatlich institutionalisiert (so der Streitpunkt in der Kommunitarismus/Liberalismus- Debatte) oder letztere nach ersteren modelliert sein (so Hegel in der Rechts- und Staatsphilosophie).[xxxiv] Man denke dabei an Formen wie Sitten, Bräuche, Konventionen und Traditionen,[xxxv] die das gesellschaftliche Leben organisieren und von allen Mitgliedern dieser Gesellschaft als ein organisierender Mechanismus anerkannt werden.[xxxvi]

In traditionalen Gesellschaften wird den Mitgliedern “des Ganzen” der Gesellschaft ihr “Platz” zugewiesen.[xxxvii] Wird dieser “Platz” akzeptiert, dann ist die Integrität der Gemeinschaft nicht verletzt, auch wenn nicht “alle”[xxxviii] an den gesellschaftlichen Prozessen im Sinne Taylors partizipieren.[xxxix] Die Partizipationsform ist eine andere: durch die Erfüllung der Pflichten und Wahrnehmung von Rechten gemäß dem jeweiligen Platz in der Gesellschaft. Wenn in traditionalen Gesellschaften das Bewusstsein des Identifikationspols verblasst und eigens durch traditionspflegende Maßnahmen gestützt werden muss, dann hängt die überkommene Integrität der Gemeinschaft auch im nichtemanzipatorischen Sinn von der Bereitschaft und Initiative, wenn nicht aller, so doch maßgeblicher Mitglieder der Bevölkerung ab, diesen Zustand aufrechtzuerhalten. Letzteres gilt auch für moderne demokratische Gesellschaften, solange die “Institutionen und Verfahren des politischen Systems” als “ Gemeingut betrachtet und gepflegt werden müssen.” Die Frage wie ein “Selbst sich gegen traditionellgemeinschaftliche Selbstverständnisse wenden [kann], wenn seine Identität mit diesen auf so untrennbare Weise verbunden ist,”[xl] eröffnet das Spektrum eines in dieser Konstruktion enthaltenen Konfliktpotentials, das auch in den modernen rechtsstaatlichen und demokratischen Zuständen virulent ist, sich nicht in der evolutionären Juridifikation, Etatisierung und Ökonomisierung auflöst und dem in der nachfolgenden Textanalyse — historisch und aktuell perspektiviert — meine Aufmerksamkeit gilt.

 

2. Interne und externe Verletzung der kollektiven Integrität

Wascha-Pschawelas Gedicht Aluda Ketelauri[xli] setzt mit der Verletzung der Integrität einer chewsurischen Gemeinde ein. Die Kunde vom Raubüberfall des benachbarten muslimischen Stammes der Kisten erreicht das Dorf Schatili. Aluda Ketelauri, der seinen persönlichen Anteil an der von den Kisten geraubten Pferdeherde hat, entscheidet, die Räuber zu bestrafen.

Die Integrität des Kollektivs ist aber nicht nur durch den Besitzverlust verletzt. In seiner Analyse des hegelschen Systems der Sittlichkeit betont Axel Honneth, durch das Verbrechen der Beraubung werde ein Subjekt zunächst zwar nur in seinem Recht auf das ihm zustehende Eigentum beschnitten, dadurch aber zugleich so angegriffen, dass es als “Person” im Ganzen verletzt sei.[xlii] Den Schritt zur Verflochtenheit des personalen Verhältnisses mit dem Kollektiv macht bereits Hegel selbst und zwar im Rekurs auf die Familie. Ihre “Totalität” schließe

unmittelbar die Einzelheit so aus, dass für die Rache nicht der Rächende ein Fremdes, oder auch ein Einzelnes sei, sowenig als der Angreifende; sondern ein Glied einer Familie, nicht eine Abstraktion; […] In der Totalität der Rache muss die Form als absolutes Bewusstsein gesetzt sein, […] dies ist aber nur die Familie; ebenso ist der Beleidiger nicht ein Einzelnes, er hat als Einzelnes nicht beleidigt, sondern als Glied eines Ganzen; er ist in der Totalität nicht als Abstraktion gesetzt.[xliii]

Es ist für uns nicht unwichtig, dass Hegel hier als “ein Ganzes” die Familie setzt, obwohl das Ganze auch durch andere vor- und nebenstaatliche soziale Einheiten repräsentiert werden könnte, vorausgesetzt, dass es Unverletzlichkeitsschutz, nach welchem Code auch immer, genießt. Ein gesellschaftlicher Code dieser Art ist die Ehre,[xliv] die Honneth als eine Haltung definiert, “die ich mir gegenüber dann einnehme, wenn ich mich mit allen meinen Eigenschaften und Eigenarten positiv definiere.”[xlv] Ehre tritt aber auch als “Gruppenstolz” in Bezug auf Kollektive auf.[xlvi] Die Aufgabe von Aluda besteht darin, die von außen verletzte Integrität seines Kollektivs auf materieller und auf symbolischer Ebene wiederherzustellen. Er muss die Pferdeherde zurückführen und die Räuber bestrafen — ihnen das Leben nehmen und als Symbol seines Sieges die abgeschnittene rechte Hand des Gegners seinem Kollektiv vorweisen.[xlvii] In der Honneth’schen Interpretation der Realphilosophie Hegels heißt es, dass das attackierte Subjekt unter Beweis zu stellen habe, dass es durch die feindselige Besitzzerstörung nicht um des puren Besitzes willen, sondern um der gezielten Fehldeutung seiner Intentionen willen beleidigt worden sei. Für diese Überzeugung könne es die Anerkennung seines Gegenüber nur dann finden, wenn es durch die Bereitschaft zu einem Kampf auf Leben und Tod demonstriere, dass ihm die Legitimität seiner Ansprüche mehr gelte als das Materielle und Physische: etwa das eigene Leben.[xlviii]

Die Ehre, die Aluda zu verteidigen hat und die durch den Raubüberfall der Kisten verletzt wurde, ist die Ehre des chewsurischen Kollektivs, als Früh- wie als Kontemporärform des begründeten Anspruches auf Unverletzlichkeit, an der Aluda als Mitglied dieses Kollektivs Teil hat. In einem dramatischen Duell tötet Aluda den Kisten Muzal und seinen Bruder. Dem toten Bruder Muzals schneidet er regelkonform die rechte Hand ab. Aber beeindruckt vom Mut und der Kampf- und Lebenslust Muzals entscheidet er sich hier, von der üblichen Gepflogenheit des Umgangs mit dem getöteten Feind abzuweichen. Der sterbende Muzal, der in Aluda ebenfalls einen mutigen Kämpfer anerkennt, bietet ihm seine Waffen an. Aluda weigert sich aber, seine Waffen als Trophäe anzunehmen, schneidet ihm auch die rechte Hand nicht ab und erweist dem getöteten Feind stattdessen die letzte Ehre. Diese Entscheidung Aludas hat weitgehende Folgen für seine Stellung in der chewsurischen Gemeinde. Zurückgekehrt nach Schatili schildert Aluda die Begebenheit den Dorfbewohnern und gibt zu, dem “seligen Muzal” (63) die Hand nicht abgeschnitten zu haben. Die Dorfbewohner schenken Aluda keinen Glauben, weil sie sich nicht vorstellen können, einen Feind getötet zu haben, ohne ihm die Hand abzuschneiden, und werfen Aluda Feigheit und Lüge vor. Mindia, ein Freund Aludas, reitet zum Kampfplatz, um das Dorf von der Unschuld Aludas zu überzeugen. Er findet den toten Muzal, schneidet ihm selbst die Hand ab, bringt seine abgeschnittene Rechte als Nachweis für die Ehrlichkeit Aludas ins Dorf und wirft den Chewsuren vor, den mutigen Krieger voreilig zu einem Feigling herabgewürdigt zu haben. Aluda weigert sich aber, die Hand Muzals anzunehmen. Die Weigerung, zunächst die Hand Muzals abzuschneiden und später die von Mindia abgeschnittene Hand anzunehmen, impliziert eine Verschiebung des symbolischen Werts: aus einem Symbol des Triumphs über den Feind in wiederhergestellter Ehre und Integrität des Kollektivs wird ein Symbol der Anerkennung des (ehemaligen) Feindes in Respektierung seiner Ehre und körperlichen Unverletzlichkeit (Integrität). Durch diese Weigerung, den Bräuchen seines Kollektivs zu folgen, wird seine Stellung innerhalb des Kollektivs erschüttert, aber noch nicht endgültig ruiniert.

Aluda, der chewsurische Krieger, ist kein Mensch der Reflexion. Seine Gedanken können wir aber anhand von Metaphern und Traumbildern rekonstruieren. Auf dem Rückweg vom Kampfplatz entwirft Aluda ein metaphorisches Bild der perpetuierten Feindschaft:

Wer die Feindschaft begehre, solle die Türe seines Hauses öffnen, das Blut überflute sein Heim, dort stehe er, das Blut statt des Weins trinkend und statt des Brots verzehrend, […] im Blut werde er getraut und feiere seine Hochzeit mit den Gästen, im Blut stehe sein Ehebett, im Blut zeuge er seine Kinder, im Blut schaufele er sein Grab, dort werde er begraben liegen. Töte einen Anderen, wirst du auch getötet, die Familie wird dem Mörder das Blut heimzahlen. (62f.)

Aludas Traum bringt dieses Bild noch expliziter zum Ausdruck: Er träumt von einem Leichenschmaus im chewsurischen Dorf. Der verwundete Muzal bittet ihn um den Tod, woraufhin sich der Schmaus als Verzehr von Menschenfleisch erweist, das Aluda trotz seines Unbehagens essen muss. Kannibalismus ist ein topisches Bild für die christliche Bezeichnung der Barbarei.[xlix] Die Verknüpfung Muzals mit dem Kannibalismus im Traum ist ein Zeichen dafür, dass Aluda seine Tat als “barbarische” — im weitesten Sinne — empfindet. Die Bilder, in denen Aluda denkt und träumt, nehme ich zum Anlass, noch ein Mal auf die Stelle in der Jenaer Realphilosophie Hegels zurückzugreifen, an der er vom Kampf auf Leben und Tod spricht. Indem das beleidigte Subjekt sein Leben aufs Spiel setzt, scheint ihm, “daß es auf den Tod eines Anderen geht; es geht aber auf seinen eigenen;” es sei “Selbstmord, indem es sich der Gefahr aussetzt.”[l] Weil beide Subjekte im Kampf auf Leben und Tod jeweils “das Andre als reines Selbst gesehen” hätten, besäßen sie anschließend ein “Wissen des Willens”, in das ihr Gegenüber prinzipiell als eine mit Rechten ausgestattete Person einbezogen sei.[li] Aluda denkt aber nicht in rechtlichen, genauer: rechtlich-moralischen,[lii] sondern in moralischen, genauer: moralisch-religiösen Kategorien oder Bildern. Die existenzielle Erfahrung des Todes bzw. der Gleichheit des Anderen ist eine notwendige Bedingung für die Anerkennung des Anderen als moralische wie als Rechtsperson. Wir können diese existenzielle Erfahrung weder bei Hegel noch bei Aluda wegdenken. Der Schluss, zu dem Aluda kommt (“Töte einen Anderen, wirst du auch getötet, die Familie wird dem Mörder das Blut heimzahlen.” 64) enthält jedoch noch ein weiteres: Aluda sieht nicht nur sich selbst bedroht. Zentral scheint mir an dieser Stelle wie bei Hegel der Rekurs auf die Familie zu sein. Sie agiert als ein “rächender Agent” in den Konflikten, die innerhalb des eigenen Kollektivs ausgetragen werden. Die Tötung eines Mitglieds des eigenen Kollektivs mit anderer Familienzugehörigkeit trägt aber nicht zum Ruhm bei (wie im Falle der Tötung eines Feindes), sondern ist eine Sünde (64) (d.h. ein Verbrechen nicht nur im rechtlich-moralischen, sondern vielmehr auch im religiös-moralischen Sinn). Indem Aluda an Muzal in den Kategorien des Mitglieds eines eigenen Kollektivs denkt, sieht er ihn nicht mehr als einen “Anderen” bzw. “Fremden” an, was zur Folge hat, dass er seine Tat in der Kategorie der Sünde überdenkt. Dieser gedankliche Schritt erweitert die Grenzen des “Gleichen” und sprengt damit die des “Eigenen”, wie sie dem chewsurischen Kollektiv gezogen worden waren. Aluda bezieht nach der Dialektik der Anerkennung auch den “Anderen” mit ein. Nur so kann er die Tötung des Anderen als Entwürdigung, als Kannibalismus und Barbarei verstehen.

Die Anerkennung des Anderen als Gleichen führt allerdings auch zur Anerkennung Muzals als “Rechtsperson” und damit zu einer Verschärfung des Konflikts. Das Gegenbild des Kannibalismus motiviert Aluda, dem toten Muzal das gleiche Recht zuzugestehen und die gleiche Achtung zu erweisen wie einem Mitglied des eigenen Kollektivs. Nach dem Verständnis des chewsurischen und des kistischen Kollektivs können Feinde aber bestimmte Eigenschaften nicht besitzen und daher auch keinen Anspruch auf (daraus resultierende) Rechte haben. Während des Duells beschimpfen Aluda und Muzal sich gegenseitig als “ungläubiger Hund” (59). Der Sprachgebrauch markiert nach dem Kriterium der Gläubigkeit eine semantische Grenze zwischen Wir (Menschen) und Sie (Tiere). Er stammt aus dem Repertoire der Glaubenskriege und würde eigentlich verlangen, dass nach der Dialektik der Anerkennung anschließend nun auch die Ungläubigkeit in Andersgläubigkeit transformiert wird. Als Andersgläubige wären die Feinde oder Fremden auch religiös in ihrem menschlichen Dasein anerkennbar. Aluda ist vor dem Zweikampf mit Muzal nicht dieser Auffassung. Nach dem Kampf aber kommt er zu dem Schluss, dass auch der Feind oder Fremde dieselben Eigenschaften besitzen kann. Diese Einsicht resultiert nicht aus einer religiösen Bekehrung, wohl aber aus einer erwiesenen Todesbereitschaft und Tapferkeit, die er vorher dem Bereich des “Eigenen” vorbehalten hat. Aluda erkennt Muzal als Seinesgleichen zunächst in der “imaginierten Gemeinschaft” der “Heroen” an,[liii] um ihm in einem weiteren Schritt auch die gleichen Rechte einzuräumen und ihn schließlich sogar wie einen wie einen Christen zu behandeln: Er bezeichnet den toten Muzal als selig.[liv]

Die chewsurische Gemeinde, die sich nicht auf der Basis einer solchen existenziellen Erfahrung mit Feinden oder Fremden versteht, kann diese Zuschreibung nicht akzeptieren, weil für sie “die Seligkeit des Kisten nicht im Glaubenskanon geschrieben” (63) steht. Da im Denken der Chewsuren keine andere Möglichkeit vorgesehen ist, sind sie gehalten, das Handeln Aludas als eine Feigheit und daraus resultierende Notlüge zu interpretieren. Als sie von Mindia überzeugt werden, dass Aluda Muzal tatsächlich getötet hat, ist ihnen die Tat Aludas noch unverständlicher. Sie sind verärgert und verweisen auf die Bräuche. Das führt uns zu einem weiteren wichtigen Punkt: Wenn Aluda seine Tat als Sünde denkt, kann er die Quelle, die ihn zu dieser Tat geführt hat, das “Gesetz” in seiner rechtlichen, sittlichen, religiösen und moralischen Bedeutung, nicht uneingeschränkt akzeptieren. Die Ursache des Konflikts zwischen Aluda und seinem Kollektiv ist somit das “Gesetz”, genauer gesagt: seine restriktive und exklusive Auslegung, die mit Aludas Auslegung kollidiert. Das Gesetz wird in seiner Funktion als gemeinsamer “Identifikationspol” brüchig. Die aggressive Spannung zwischen Aluda und den restlichen Dorfbewohnern, die die Werte des Kollektivs nicht in Frage stellen, beeinträchtigt die Einheit des Kollektivs und lässt die gegenseitige Achtung erheblich Schaden leiden. Dennoch behält Aluda weiterhin die Partizipationsmöglichkeit im Kollektiv, bis er schließlich das endgültige Zerwürfnis provoziert.

Bei einem religiösen Fest entscheidet er, für den toten Muzal einen Stier zu opfern und Muzal damit als dem Kollektiv zugehörig anzuerkennen. Das versteht auch der Oberpriester: “Du machst den Ungläubigen zum Gläubigen” (69). Der Oberpriester geht aber gar nicht auf die Gründe ein, aus denen Aluda durch sein Opfer den Ungläubigen (den Fremden) zum Gläubigen (dem Eigenen) machen will. Er begründet seine Weigerung, das Opfer zu vollbringen, traditionell: “Die Väter haben das nicht geboten, und auch die Großväter und Urgroßväter nicht. Besinne dich, Du bist ein Christ, und wirst damit zum Ungläubigen” (70). Seine Argumentation enthält zwei wichtige Punkte: Erstens verwandelt er das Argument Aludas in sein Gegenteil: wenn Aluda durch sein Opfer den Feind zum Freund macht und damit die Grenzen des Kollektivs erweitert, d.h. inkludierend verfährt, dann verfährt der Oberpriester Berdia dagegen exkludierend, indem er behauptet, durch das Opfer an dem Ungläubigen schließe Aluda sich selbst aus dem chewsurischen Kollektiv aus und werde somit zum Fremden oder Feind. Zweitens rekurriert der Priester auf das durch die Tradition gewährleistete heilige Gesetz des chewsurischen Kollektivs im Sinn der religiösen Basisunterscheidung: “Wie kann ich für den Hund beten, aus dem Hundestamm, lieber falle mir der Himmel auf die Erde, die Erde soll mich verschlingen oder ich soll im Meer untergehen und den Meeressand essen” (70). Die eschatologischen Metaphern, die der Oberpriester Berdia dabei verwendet, bringen die Folgen der Übertretung des Gesetzes zum Ausdruck: wird das Gesetz gebrochen, verliert es nicht nur seine soziale und lokale Geltung, sondern es geht die Welt (wie sie Berdia versteht) unter. In seiner Gegenargumentation geht Aluda ebenfalls nicht mehr auf die Gründe seiner Tat ein, sondern begründet sein Recht, das Opfer zu vollbringen, lokal durch seine Zugehörigkeit zum chewsurischen Kollektiv:[lv] “Verweigere mein Opfer nicht, […] ich bin auch der Diener des Kreuzes von Gudani,[lvi] ein Chewsure wie ihr, wir sind eins Berdia, die Bewohner eines Berges” (70). Der Oberpriester weigert sich aber erneut, das Opfer für den Kisten zu vollbringen. Darauf folgt der Schritt Aludas, der den Bruch mit seinem Kollektiv endgültig besiegelt: er opfert selbst für Muzal und verstößt damit doppelt gegen das “Gesetz”. Er usurpiert die Zuständigkeit des Oberpriesters und er opfert für den “Ungläubigen”.

Um die Tat Aludas zu interpretieren, kann man erneut auf Hegel zurückgreifen; Hegel spricht sowohl im System der Sittlichkeit als auch in der Jenaer Realphilosophie über das Verbrechen.[lvii] Zwar bleiben im System der Sittlichkeit die Motive des Verbrechens ungenannt, aber wenn wir Axel Honneths Rekonstruktion folgen, dann dürfen wir als die Ursache des Verbrechens eine “unvollständige Anerkennung” annehmen.[lviii] In der Jenaer Realphilosophie heißt es:

Seine (des Verbrechers — Z.A.) innere Rechtfertigung ist, der Zwang, das Entgegenstellen seines einzelnen Willens zur Macht, zum Gelten, zum Anerkanntsein. Er will etwas sein (wie Herostrat), nicht gerade berühmt, sondern dass er seinen Willen zum Trotz dem allgemeinen Willen ausgeführt hat.[lix]

In seiner anerkennungstheoretischen Interpretation vertritt Honneth die Meinung, durch das Mittel der provozierenden Handlung versuche ein Subjekt entweder den einzelnen Anderen oder die vereinigten Vielen dazu zu bewegen, das durch die sozialen Verkehrsformen jeweils noch nicht Anerkannte der eigenen Erwartungshaltungen zu respektieren.[lx] Wenn Hegel auf Herostrat rekurriert oder den Willen zur Eigenmacht als die Ursache des Verbrechens ansieht, dann denkt er an negative Formen des Verbrechens, was in Aludas Fall nicht zutrifft. Sein Verbrechen (Verstoß) ist vielmehr eine Kommunikationsform mit seinem Kollektiv, wenn alle andere Kommunikationsformen ausgeschlossen sind.[lxi] Durch seine Tat versucht Aluda zweierlei zum Ausdruck zu bringen: einerseits seinen Willen zur Durchsetzung seiner Vorstellungen in der Auslegung des Gesetzes oder Rechts, andererseits seinen Anspruch auf die Partizipation an den zentralen Aktivitäten des Kollektivs. Folgt man Honneth, dann sind zwei “Lernschritte” in Anschlag zu bringen, mit denen die “vereinigten Rechtssubjekte auf die Provokation des Verbrechens zu reagieren hätten”: einerseits den “Gewinn an Kontextsensibilität in der Anwendung von Rechtsnormen”, andererseits die “Erweiterung der Rechtsnormen um die Dimension der materiellen Chancengleichheit.”[lxii] Für unseren Fall käme der erste “Lernschritt” in Frage, wenn das chewsurische Kollektiv sich darauf einlassen würde, Aludas Auslegung der Rechtsnormen zu akzeptieren, und bereit wäre, den “moralischen Horizont” zu erweitern. Der Oberpriester Berdia und die Chewsuren nehmen die Tat Aludas aber so, wie Berdia bereits angekündigt hat. Durch das Verbrechen sieht das chewsurische Kollektiv seine Integrität von innen gefährdet. Sie aktivieren den repressiven Apparat, um die kosmische wie die soziale Ordnung, die ihrer Ansicht nach durch Aludas Verbrechen verletzt wurde, wiederherzustellen. Aluda wird die Usurpation der Rechte des Priesters und das Opfer für den Ungläubigen angelastet. Die Strafe resultiert aus der Ansicht, durch seine dem Ungläubigen gewidmete Opferung sei Aluda auch selbst zu einem Ungläubigen geworden und habe sich aus dem chewsurischen Kollektiv ausgeschlossen. Der Rat der Chewsuren, den Berdia einberuft, beschließt Aluda zu verbannen, sein Haus und seine Burg zu zerstören, seine Weiden zu verbrennen und seinen Besitz zu konfiszieren.

 

Das Verhalten des chewsurischen Kollektivs und das Kollektiv selbst möchte ich als homöostatisch bezeichnen. Auf gesellschaftliche Verhältnisse übertragen, bedeutet Homöostase, dass die Erhaltung eines bestimmten Zustandes angestrebt wird und Abweichungen ausreguliert werden. Als Zustand wird hier das in “unwandelbare[r] Dauer”[lxiii] genommene, durch Gesetz und Tradition geheiligte Überleben einer Gemeinschaft bezeichnet. Das Verhältnis, in dem die Mitglieder des Kollektivs zu dem regulierenden Gesetz und der Tradition stehen, als dessen Garant der Herr (Gott oder Schutzpatron des Heiligtums) aufritt, ist die des Gehorsams. “Der Herr liebt seine Diener”[lxiv] (69). Wegen des religiösen Ursprungs des Gesetzes und der Traditionen ist der Verstoß als Sakrileg und als Störung der kosmischen Ordnung aufzufassen, als deren Teil sich die Gemeinschaft versteht. Die Änderung des geheiligten Zustands wird in endzeitlichen Kategorien beschrieben. Aus diesem Grund kann die Änderung des einmal gestifteten und geheiligten Gesetzes, auf dem die Integrität des Kollektivs basiert, im Sinn der oben genannten “Lernschritte” gar nicht erwogen werden. Das Kollektiv reagiert auf die Verstöße gegen das Gesetz mit dem Ausschluss aus dem Kollektiv, um seine Integrität gesetzes- und traditionskonform wiederherzustellen. So verstanden wäre die Homöostase die Wiederherstellung der Integrität, die ihrerseits als die beanspruchte Unverletzlichkeit einer ein für allemal gestifteten Ordnung verstanden wird. Homöostase wäre somit das genaue Gegenteil der Selbsttransformation, ein ständiges Wiedergeborensein “nicht etwa zum neuen, sondern stets zum alten Leben, […] wo alle übrigen in Ewigkeit […] immer nur dasselbe tun und reden” an einem “Platz des ewigen Totentanzes […]”.[lxv] Um sein sakralisiertes Überleben zu sichern, reagiert ein homöostatisches Kollektiv auf die Verletzung der Integrität entweder so, dass es seine Mitglieder, die gegen das Gesetz verstoßen, zum Gehorsam zwingt, oder so, dass es sie aus dem Kollektiv ausschließt. Die starke Homogenität eines solchen Kollektivs ist unter anderem durch die Intoleranz gegenüber dem nicht gesetz- und traditionskonformen Denken gewährleistet.[lxvi] Die Erweiterung des moralischen Horizonts ist für ein homöostatisches Kollektiv nicht möglich.

Aluda stellt die Werte, das “Gesetz” des eigenen Kollektivs, das die Fremden ausschließt, in Frage. Er bricht bewusst mit dem Sujet des (konventionellen) Heros und seiner Gemeinschaft. Dieses Analyseergebnis deckt sich mit der Interpretation Niko Andronikashvilis, der den Bruch, der zu Aludas Entfremdung von seiner Gemeinschaft und schließlich zu seiner Entwurzelung führt, als Freiheitsweg Aludas auffasst.[lxvii] Das semantische Feld, das durch die Anerkennung des Anderen, den Bruch mit dem eigenen Sujet, durch Entwurzelung und Freiheit strukturiert wird, wird in der postmodernen Bearbeitung des Aluda-Sujets durch Giwi Margwelaschwili in dessen Roman “Muzal” aufgegriffen und weitergeführt.

 

3. Überwindung der kollektiven Desintegrität

Margwelaschwilis Bearbeitung des Sujets als dissidente Auseinandersetzung mit der UdSSR ist nicht auf die Erweiterung einer zu eng gefassten kollektiven Integrität, sondern auf die Überwindung einer kollektiven Desintegrität gerichtet. Sein Erzählkonzept, das die Handlung in den Rahmen der Buchmetapher (als postmoderne Chiffre für die literarische Reflexion) verlegt, verfährt allerdings parabolisch statt realistisch, wobei Margwelaschwili den Hiat zwischen sozialer Praxis[lxviii] und historisch-politischer Semantik[lxix] nutzt und die sozialistische implizit mit der religiösen Kodierung eng führt. Zentral und für die Überwindung der Desintegrität ausschlaggebend ist die Metapher der Aufführung, die gegenüber dem Vorgängertext ein durchschlagendes Dekonstruktionspotenzial hat.[lxx] Im Muzal greift Margwelaschwili das Sujet von Aluda Ketelauri auf, verändert aber den ontologischen Status des Geschehens, indem er seine Geschichte in die “Buchwelt” verlagert. Jedes mal, wenn Aluda Ketelauri gelesen wird, müssen die “Buchpersonen” zur “Vorstellung” antreten und das Sujet “aufführen”. Wenn das Buch nicht gelesen wird, führen sie ihr eigenes Leben. Die Buchpersonen sind “unsterblich”:

Der Tod […] ist kein absolutes Verschwinden, sondern ein verborgenes Dableiben der Buchperson in ihrem jeweiligen Gedicht- oder Geschichtsgebiet, eine Form von getarnter Bereitschaft für die nächste thematische Runde: für die nächste Buchöffnung durch einen neuen realen Leserkopf. Mit dem Buchschluss […] schlägt […] die große Stunde der Wiederauferstehung. (18f.)

Die Gemeinschaft der Buchpersonen basiert anders als in der Realwelt nicht (oder nicht nur) auf der Blutsverwandtschaft, sondern hat “immer ein Thema zur Grundlage” (7) (in diesem Fall das “Thema” des Aluda Ketelauri). Das Thema wird in der Buchwelt auch “Themi” genannt. Durch die Verknüpfung des “Themas” mit dem “Themi” (ein georgisches Wort, das “Gemeinde” bedeutet) betont Margwelaschwili die Bedeutung des (durch Integration) identitätsstiftenden Mechanismus: Die Gemeinschaft ist nicht nur formal basiert, sondern sie wird auch vom “Thema” zusammengehalten. Wenn die Gemeinschaft zunächst mit Walzer als “eine Heimstatt für Zusammenhaltung, Bindung und Erzählvermögen”[lxxi] zu verstehen ist, dann verkehrt sich das Verhältnis im chewsurischen “Themi”, das beispielhaft für die traditionalistischen Gemeinschaft stehen kann, indem nicht der Text von der Gemeinschaft, sondern die Gemeinschaft von dem Text “erzeugt” und zusammengehalten wird. Der Text (“Thema”) verbindet die Gemeinschaft mit der Ewigkeit, sichert ihre Identität und schützt sie vor dem Wandel.[lxxii] Der Text kann in diesem Fall, wie im “Themi”, zum “Gesetz” werden und muss dann nicht nur gelesen, sondern auch gelebt und aufgeführt werden, wie der Bibeltext zu leben und in der Liturgie aufzuführen ist. Die Gleichsetzung von “Thema” und “Themi” nach diesem Modell sakralisiert die Buchgemeinschaft: das “Thema” ist “allen heilig”; […] “[n]iemand würde jemals wagen, dagegen zu verstoßen oder es beispielsweise zu ignorieren”. Um das Thema können die Buchpersonen sich gar nicht drücken, auch wenn sie es wollen würden (11). Eine Art “Diskurspolizei”,[lxxiii] die “Ziegenhirten” überwachen die Buchpersonen hinsichtlich der korrekten Beachtung des Themas (11).[lxxiv]

Die Handlung des Buches setzt etwa 100 Jahre nach dem Erscheinen des Aluda Ketelauri (1888) ein, als das Thema nach Auskunft des Erzählers bereits zu devalvieren beginnt. Das Buch wird immer seltener geöffnet und die Buchpersonen geraten immer mehr aus dem “Thema oder Themi” (12). Das auf dem “Thema” basierte “Themi” muss zunächst durch mnemotechnische, später aber auch durch repressive Maßnahmen der Diskurspolizei zusammengehalten werden.

Was wir machen müssen, das wissen wir, weil es leichter zu behalten ist, immer noch ganz gut, was wir aber sagen müssen, besonders der genaue thematische Wortlaut, das kommt uns in unserem immer länger geschlossen bleibenden Buch allmählich aus dem Sinn.(12)

Die Ziegenhirten (Diskurspolizisten) verteilen zu diesem Zweck Spickzettel mit dem thematischen Wortlaut. Aus diesen Spickzetteln, die auf Holzklötze geklebt werden, wird ein Spiel: “Thomino”; ein Worthybrid aus Themi und Domino. Die Klötzchen müssen zusammengestellt werden, und als Sieger wird derjenige anerkannt, “dem es durch geschicktes Ausspielen der Klötzchen gelingt, den ganzen Text in irgendeiner seiner Äußerungen im Themi wortgetreu aufzubauen.” (13)

Die Anerkennungskämpfe, in deren Zentrum der von Aluda getötete Kiste Muzal — der Icherzähler des Romans — steht, werden auf drei hierarchisch geordneten ontologischen Ebenen,[lxxv] des Spiels (Thomino), der Gesellschaft (Themi) und der (aus der Buchweltperspektive) metaphysischen Ebene der Leser (“Realköpfe”), ausgetragen.[lxxvi] Mit Muzal ist der “Fremde” im chewsurischen Themi von Anfang an präsent. Muzal, der “einem nach Rasse, Sprache und Religion völlig verschiedenen Bergstamm” (16) angehört, ist im “Themi” ein missachteter Außenseiter, ein Fremder:

Niemand würde […] einen Fremden wie mir irgendwelche große Bedeutung zumessen […] Viele steinalte Buchpersonen im unserem Gebiet können es auch bis heute noch nicht verdauen, dass ich mit zu ihrem Themi gehöre […] (16)

Es ist aber nicht das Themi, sondern Muzal, der trotz seiner Marginalisierung durch das Themi ein integraler Bestandteil des Themas und sogar, wie er glaubt, die wichtigste Buchperson ist und als solcher die Initiative ergreift. Der Weg der Revolte und der Gewaltanwendung scheint für Muzal ausgeschlossen zu sein. Weil er glaubt, der reale Gedanke sei viel verderblicher als eine Bombe (139), sieht er eine Möglichkeit, seinen Status im Themi zu verändern, darin, die realen “unthematischen” Gedanken über Innovationen im Thomino in das Themi hineinzuschmuggeln.

Das Thominospiel, eine Widerspiegelung des Themis, wird zu einer Reflexionsebene, auf der die Zusammenhänge im Themi erkannt werden können. Auch Muzal wird sich seiner Rolle im Themi erst über das Thomino bewusst:

Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass die meisten Klötzchen sich ihrem Text nach entweder direkt […] oder indirekt auf mich beziehen, dass jeder größere Einsatz […] mit mir zusammenhängt […] und folglich ohne mich […] kein Thomino und zweifellos auch gar kein Themi zustande käme. (15).

Muzal, dem es um seine “Anerkennung” im engeren und um die Anerkennung des Fremden im weiteren Sinn im “Themi” und “Thomino” geht, findet die Verhältnisse in “Themi” und “Thomino”, das “beinahe so langweilig wie das Themi” (16) ist, “denkbar günstig für die Erneuerungsvorschläge und fängt mit der Veränderung der Spielregel (zunächst im direkten, später aber auch im übertragenden Sinne) an. Er führt neue Spielbegriffe ein, die nicht nur für das “Thomino” sondern auch für das “Themi” wichtige Folgen haben: “Schisch” (Das Handabschneiden)[lxxvii] und “Händedruck”, die zunächst “keinerlei Entsprechungen im Themi haben” (21), werden zu den zentralen, die Verhältnisse im “Themi” erklärenden und strukturierenden Metaphern. Die Gestaltungsfreiheit im Spiel stellt Muzal dem kanonischen Starrsinn des “Themas” gegenüber. Die alternativen Entwürfe des “Themas” (und damit auch des “Themis”) können zunächst auf der Spielebene ausprobiert werden. Das Spiel wird damit zum Polygon der Innovationen. Wenn die Handlungen der Personen im “Thomino” nicht mehr thematisch vorgeschrieben sind, dann hängt Leben und Sterben nicht mehr vom Thema, sondern “vom Kopf und ein bisschen Glück der Personen ab” (45). Mit der Auflockerung der thematischen Zusammenhänge auf der Spielebene durch die “unbegrenzten Kombinationsmöglichkeiten der Klötzchen im Thomino” erlangen die Mitglieder des “Themi” eine Interpretationsfreiheit, allerdings zunächst auf der Spielebene. “Es (das Thomino — Z.A.) bekam, einmal von allen seinen eintönigen Richtlinien befreit, den neuen faszinierenden Sinn der Erlösung aller leidenden Buchpersonen, […] also den Sinn der geschichtlichen Verbesserung dieser Personen” (141). Durch sein Umschreibprojekt stellt Muzal aber nicht nur die Spielregeln im “Thomino”, sondern auch das “Thema” und somit auch das “Themi” in Frage. Neue Spielregeln verändern die Verhältnisse im “Themi” insofern, als die Erkenntnisse, die man im Spiel gewinnt, auf das “Themi” übertragen werden. So wird Thomino, das anfänglich als ein mnemotechnisches Instrument für die Stärkung des Themis und Themas diente, von Muzal unter günstigen Voraussetzungen der Differenzierung von Thema und Themi zunächst unter dem Primat des Themas, dann in bewusster Traditionspflege von Seiten des Themis, schließlich im daraus hervorgehenden freien Thomino-Spiel subvertiert und in sein Gegenteil verwandelt.

 

4. Kollektive Integrität als Faktor oder Hindernis der Integration?

Muzals alternatives Projekt heißt Themi ohne Thema. Weil das Thema nicht die Funktion des identitätsstiftenden Mechanismus erfüllen kann, kommt Muzal zum Schluss, dass alle Buchpersonen, die einem konkreten Thema gehorchen, am wenigsten thematisch, weil ihrem Thema selbst entweder ganz oder zum Teil entfremdet, sind. “Thematisch” im Sinne Muzals ist die freie und ungezwungene Verbundenheit zu seinem Themi, die aber unter dem Zwang des Themas nicht gewährleistet werden kann. Diese “Entfremdung” ist für Muzal nicht nur eine “bewusste anti- oder unthematische Einstellung der Buchpersonen gegenüber ihrer eigenen Geschichte”, sondern ergibt sich zwangsläufig auch bei denjenigen, die “ihrem Thema streng verschrieben” sind, weil sie ihr “eigenes Thema nicht mehr begründen können” (162). Der Sinnverlust des Themas in seiner Eigenschaft als identitätsstiftender und integritätsverbürgender Mechanismus führt dazu, dass die Mitglieder des Kollektivs es nicht mehr rational nachvollziehen und folglich auch nicht mittragen können. Diese Entfremdung führt zu einem Verlust der kollektiven Identität. Damit verschwindet aber zugleich auch die “Stelle”, die den Anspruch auf Unverletzlichkeit erheben kann.

 

Wenn wir die Erhaltung als das Ziel einer Gemeinschaft akzeptieren,[lxxviii] dann können wir anhand der Texte von Wascha-Pschawela und Giwi Margwelaschwili zwei strategische Mo­delle zur Erreichung dieses Ziels rekonstruieren. Das erste (homöostatische) Modell strebt das Bestehen der Gemeinschaft in unwandelbarer Dauer an. Das Gesetz (Brauch, Sitte) resp. das Thema, das von religiöser Wertigkeit ist und eine sakrale Bedeutung hat, schmiedet die Mitglieder des Kollektivs zu einer “Ganzheit” zusammen. Es fordert von ihnen Gehorsam und unreflektierte Affirmation. Dieses Gesetz ist der einzige Identitätspol für die Mitglieder wie für den Zusammenhalt der Gemeinschaft (oder vielmehr deren einzige Bedingung). Es begründet den kollektiven wie den individuellen Integritätsanspruch. Wenn Verstöße dagegen nach innen allein durch Sanktionen und Ausschließungen, also durch eine restaurative restitutio in integrum, geahndet werden, ohne die verändernde Kraft des Verbrechens im Sinn Honneths zu nutzen, dann entfällt die Möglichkeit, Fremdes oder auch nur anderes zu integrieren, aber auch die Möglichkeit, sich in Fremdes oder Anderes zu integrieren.

 

Im zweiten (transformatorischen) Modell wird das Gesetz desakralisiert. Der Anspruch auf Integrität wird nicht mehr aus dem Gesetz, sondern aus der freien, den gesellschaftlichen Zusammenhalt konstituierenden Entscheidung der Mitglieder des Kollektivs begründet, die das Gesetz de­battieren und verändern können, ohne sich dabei als Auswirkung konfligierender Gesetze des Themas zu verstehen. Die traditionelle Form (das Thema) kann nur “überleben”, wenn sie für die Mitglieder der Gemeinschaft eine überzeugende Kraft behält.[lxxix] Die Individuen behalten die Option, alternative Entwürfe zu konstruieren, fremde Impulse zu integrieren oder auch sich in fremde Entwürfe zu integrieren.[lxxx] Das Fremde wird nicht als eine Bedrohung, son­dern als Impuls zur Veränderung und — im Innen- wie im Außenverhältnis — zur progressiven restitutio in integrum im Honneth’schen[lxxxi] oder auch Habermas’schen[lxxxii] Sinn an­gesehen. Muzal träumt von einer “Gemeinschaft der Fremden”, einem Neben- und Miteinander der Lebensentwürfe und Narrationen, die nicht formal (und damit anders als im liberalen Konzept), sondern informell, lediglich durch den Händedruck, d.h. durch die Bereitschaft, das Fremde und das Andere in seiner Fremd- und Andersheit zu akzeptieren, organisiert ist.[lxxxiii] Die Integri­tät wird nach diesem Modell nicht thematisch oder durch Sujets festgeschrieben, sondern abhängig von einem “täglich zu vollziehenden Plebiszit”[lxxxiv] performativ erzeugt.

 

Wenn Margwelaschwili in seinem Roman die beiden Modelle in eine zeitliche Relation zueinander setzt und damit für die Transformation der traditionellen, archaischen in eine freiheitliche, moderne Gesellschaft plädiert, ist nicht zuletzt die Kontroverse zwischen Kommunitaristen und Liberalisten ein Beleg dafür, dass Elemente des homöostatischen Gesellschaftsmodells nicht nur traditionelle, sondern auch moderne und demokratische Gesellschaften nach wie vor mitbestimmen. Gerade wenn sich Kollektive im Hinblick auf Nachbarkollektive relationieren und im globalen Rahmen der Weltgesellschaft zu einem Ganzen zusammenschließen wollen, werden sich die Integrationsprozesse nicht allein auf formalrechtlichem Wege organisieren lassen, sondern auch durch Interferenzen von homöostatischen und transformatorischen Operationen bestimmt sein müssen.

 

 

 


[i] Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003).

[ii] Charles Taylor, “Wieviel Gemeinschaft brauch die Demokratie,” Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? Aufsätze zur politischen Philosophie (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004) 11–30, hier: 20.

[iii] Aluda Ketelauri gehört zu den zentralen Texten des georgischen Literaturkanons.

[iv] Politisch wird hier im Sinne von staatlich organisiert verstanden.

[v] Michael Walzer, “Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus,” Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen der modernen Gesellschaft. Ed. Axel Honneth (Frankfurt am Main, New York: Campus, 1993) 157–181.

[vi] Taylor, “Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie.” Die Gesellschaftsformen, auf die zurückgegriffen wird, müssen nicht unbedingt vormodern sein. So fungiert für Sandel zum Teil die Familie als ein Paradigma für die moderne Gesellschaft. Michael J. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice (Cambridge: University Press, 1982). Vgl. auch Charles Taylor “Aneinander Vorbei: Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus,” Kommunitarismus 103–131.

[vii] Taylor, “Aneinander Vorbei” 116.

[viii] Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung (Frankfurt am Main: Fischer, 1997).

[ix] Jürgen Habermas, “Kampf um Anerkennung im demokratischen Rechtsstaat,” Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie 2nd ed. (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997) 237–277.

[ix] Taylor, Aneinander Vorbei 116.

[x] Ebenda.

[xi] Ebenda.

[xii] Christel Zahlmann, “Vorwort,” Kommunitarismus in der Diskussion. Ed. Christel Zahlmann (Berlin: Rotbuch Verlag, 1992) 7-16, hier: 10.

[xiii] Axel Honneth, “Individualisierung und Gemeinschaft.” Kommunitarismus in der Diskussion 16–24, hier: 20.

[xiv] Walzer, “Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus” 161.

[xv] Die Zusammenfassung der Theorie Michael Sandels durch Richard Rorty, “Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie,” Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays. Trans. Joachim Schulte (Stuttgart: Reclam, 1988) 96 sowie Michael Sandel, Liberalism.

[xvi] Sandel, Liberalism 172.

[xvii] Reiner Forst, “Kommunitarismus und Liberalismus — Stationen einer Debatte,” Kommunitarismus 181–213, hier: 184

[xviii] Sandel, Liberalism 172.

[xix] Ebenda. Vgl. ebenfalls Forst, “Kommunitarismus und Liberalismus” 184.

[xx] Alasdair MacIntyre, “Ist Patriotismus eine Tugend?” Kommunitarismus 84–103, hier: 87.

[xxi] Beate Rössler, “Gemeinschaft und Freiheit. Zum problematischen Verhältnis von Feminismus und Kommunitarismus,” Kommunitarismus in der Diskussion 74–86, hier: 74.

[xxii] Vgl. Rössler, die eine feministische Kritik am Kommunitarismus vertritt. “Gemeinschaft und Freiheit” 80.

[xxiii] Ebenda.

[xxiv] MacIntyre, “Ist Patriotismus eine Tugend?” 88.

[xxv] Taylor, Multikulturalismus 59.

[xxvi] MacIntyre, “Ist Patriotismus eine Tugend?” 88.

[xxvii] Vgl. zur Kommunitarismuskritik den Beitrag von Andrea Albrecht in diesem Band.

[xxviii] Taylor, “Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?” 19.

[xxix] Ebenda.

[xxx] Charles Taylor, “Die Beschwörung der Civil Society,” Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? 64–93, hier: 83.

[xxxi] Wie etwa bei Hegel. Siehe Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Jenaer Realphilosophie: Vorlesungsmanuskripte zur Philosophie der Natur und des Geistes von 18051806 (Hamburg: Meiner, 1969).

[xxxii] Taylor, “Die Beschwörung der Civil Society” 74, 76, 84.

[xxxiii] Vgl. Honneth, Kampf um Anerkennung 86.

[xxxiv] So Hegel in der Rechts- und Staatsphilosophie: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse: mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen. 7th ed. ( Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002).

[xxxv] Auch in einem Staat ist es grundsätzlich unmöglich, alle Formen der wechselseitigen Anerkennung oder der wechselseitigen Abhängigkeit wie etwa Höflichkeitsregeln oder Tischsitten zu artikulieren oder zu reglementieren. Vgl. das Freundschaftsmodell von Sandel. Sandels Meinung ist wertend: die übermäßige Reglementierung würde zur Verletzung freundschaftlicher oder familialer Bindungen führen. Sandel, Liberalism 35.

[xxxvi] Die Möglichkeit der Auslegung der Idee des Vorrangs gemeinsamer Werte gegenüber individueller Rechte (etwa bei Sandel und MacIntyre), “so dass gemeinschaftskonstituierende Wertbindungen an die Stelle von Rechtsbeziehungen treten”, findet sich bei Rössler, “Gemeinschaft und Freiheit” 78.

[xxxvii] Z.B. im Modell der Ständegesellschaft. Dieses wird in der altgriechischen Mythologie durch den Begriff “moira” zum Ausdruck gebracht: ein Los, eine Bestimmung des Menschen im Leben, die er nicht ändern kann.

[xxxviii] Taylor, “Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?” 21.

[xxxix] Taylor, “Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?” 14.

[xl] Forst, “Kommunitarismus und Liberalismus” 186.

[xli] Wascha-Pschawela, “Aluda Ketelauri.” Gesammelte Werke in zehn Bänden. Ed. Giorgi Leonidze. Bd. 3 (Tbilissi: Sabchota Sakartvelo, 1964) 58–74. [In georgischer Sprache.] Übersetzung der zitierten Stellen von Zaal Andronikashvili.

[xlii] Honneth, Kampf um Anerkennung 39 sowie 74ff.

[xliii] Georg Wilhelm Firiedrich Hegel, Das System der Sittlichkeit. Critik des Fichteschen Naturrechts. Ed. Horst D. Brandt (Hamburg: Meiner, 2002) 45.

[xliv] Honneth, Kampf um Anerkennung 40.

[xlv] Honneth Kampf um Anerkennung 41. Dieses “Affirmative Selbstverständnis” macht Honneth von der “bestätigenden Anerkennung durch andere Subjekte” abhängig. Ein Individuum sei nur in dem Maße zu einer vollständigen Identifikation mit sich selbst in der Lage, in dem es in seinen Eigenarten und Eigenschaften auch durch seine sozialen Interaktionspartner Zuspruch und Unterstützung finde. Mit “Ehre” sei ein affirmatives Selbstverhältnis gekennzeichnet, das strukturell an die Voraussetzung der intersubjektiven Anerkennung der je individuellen Besonderheit gebunden sei. Ich finde die Anwendung der These der Abhängigkeit der als affirmativen Selbstverständnis definierten Ehre auf Kollektive zumindest angesichts meines Beispielstextes problematisch. Wie wir später sehn werden, ist das chewsurische Kollektiv nicht von der Anerkennung durch das kistische Kollektiv abhängig, allerdings bedarf die Wiederherstellung der “Ehre”, d.h. des affirmativen Selbstverständnisses im honnethschen Sinne, einer Bestrafung des kistischen Kollektivs.

[xlvi] Honneth, Kampf um Anerkennung 208. Vgl. den Beitrag von Andrea Albrecht in diesem Band.

[xlvii] Die gesellschaftliche Anerkennung eines Mitglieds des chewsurischen Kollektivs im Aluda Ketelauri wird unter anderem durch die Anzahl der besiegten Feinde gemessen. In den Anfangszeilen des Gedichts wird Aluda in erster Linie durch sein kluges Wort im Rat, in der zweiten — durch die Anzahl der Abgeschnittenen rechten Hände der Kisten (symbolischer Ausdruck für die Anzahl der getöteten Feinde) charakterisiert. Wascha-Pschawela, Aluda Ketelauri 58.

[xlviii] Honneth, Kampf um Anerkennung 79.

[xlix] Die georgischen Chroniken, die die Sitten vor der Bekehrung zum Christentum beschreiben, berichten vom Kannibalismus an den Toten und an den Lebendigen. Die georgischen Chroniken folgen da einem Kanon der christlichen Geschichtsschreibung.

[l] Hegel, Jenaer Realphilosophie 211.

[li] Honneth, Kampf um Anerkennung 80 ff.

[lii] Nach Honneth ist der Hegel’sche Bezug auf die existenzielle Erfahrung des Todes überflüssig. Denn einzig die Tatsache einer moralisch entschiedenen Gegenwehr seines Interaktionspartners führe dem Angreifenden bereits vor Augen, dass jener ihm in derselben Weise normative Erwartungen entgegengebracht habe, wie es sie ihm gegenüber zuvor gehegt hätte. “Allein daß, nicht aber wie der Andere sich für seine individuellen Rechte einsetzt, läßt beide Subjekte in ihrem Gegenüber jeweils die moralisch verletzbare Person erkennen und damit zu einer wechselseitigen Bejahung ihrer fundamentalen Integritätsansprüche gelangen.” Honneth, Kampf um Anerkennung 82.

[liii] Vgl. Mead, “One appeals from fixed conventions which no longer have any meaning to a community in which the rights shall be publicly recognized, and one appeals to others on the assumption that there is a group of organized others that answer to one’s own appeal — even if the appeal be made to posterity.” George H. Mead, Mind, Self, and Society. From the Standpoint of a Social Behaviourist (Chicago, London: The University of Chicago Press, 1972) 199. Der Weg Aludas unterscheidet sich aber von Meads Konzept insofern, als Aluda keine “Verwurzelung” in einer anderen, sei es auch in einer imaginierten Gemeinschaft anstrebt. Sein Weg ist der eines Einzelgängers, der ihn zur Entwurzelung führt.

[liv] “Dieser selige Muzal hatte ein Herz aus Eisen.” Wascha-Pschawela, Aluda Ketelauri 63.

[lv] Damit geht er (möglicherweise) auf den Einwand Berdias ein, er würde sich durch sein Opfer an den Kisten aus dem chewsurischen Kollektiv ausschließen.

[lvi] Das Kreuz von Gudani ist das oberste Heiligtum der Chewsuren.

[lvii] Wenn Hegel vom Verbrechen im System der Sittlichkeit spricht, meint er den Raub und den Mord.

[lviii] Honneth, Kampf um Anerkennung 37.

[lix] Hegel, Jenaer Realphilosophie 224. Auf den Unterschied zwischen dem Willen zur Macht, zur Geltung und zur Anerkennung gehe ich an dieser Stelle nicht ein.

[lx] Honneth, Kampf um die Anerkennung 89.

[lxi] In ähnlicher Weise interpretiert Peter Waldmann einen Terrorakt: “Dem Terroristen geht es nicht um den eigentlichen Zerstörungseffekt seiner Aktionen. Diese sind nur ein Mittel, eine Art Signal, um einer Vielzahl von Menschen etwas mitzuteilen. Terrorismus, das gilt es festzuhalten, ist primär eine Kommunikationsstrategie.” Peter Waldmann, Terrorismus. Provokation der Macht (München: Gerling-Akademie-Verlag, 1998) 12f.

[lxii] Honneth, Kampf um Anerkennung 91f.

[lxiii] Djet, “Eins der beiden Wörter, mit denen der Ägypter die gesamte ‘kosmische’ Fülle der Zeit bzw. Ewigkeit […] zum Ausdruck bringt, bedeutet soviel wie ‘unwandelbare Dauer.’ Die Dauer dessen, was in geschichtlichem Wandel zu einer Endgestalt ausgereift und nun abgeschlossen und weiterem Wandel enthoben ist.” Mit dem Wort ‘djet’ wird die Plastik, die Mumifizierung und die Schrift verbunden. Jan Assmann, “Das Grab als Vorschule der Literatur im alten Ägypten.” Schrift und Gedächtnis. Archäologie der literarischen Kommunikation. Eds. Aleida und Jan Assmann, Christian Hardmeier (München: Fink, 1983) 64–94, hier: 79f.. .

[lxiv] Der georgische Begriff kai qma, den ich kontextabhängig als “Diener” übersetzt habe, ist kompliziert und vielschichtig. Er bedeutet einerseits den Ritter, den Heros, der andererseits durch sein “Vasallitätsverhältnis” zum Herren (als Gott oder als Schutzpatron des Heiligtums), aber auch zu seiner Gemeinschaft und daher auch als sein Diener definiert wird. Vgl. Wascha-Pschawela, “Das Ideal des Helden in der pschawischen Poesie,” Gesammelte Werke, Bd. 9, 82-87.

[lxv] Giwi Margwelaschwili, Muzal. Ein georgischer Roman (Frankfurt am Main: Insel, 1991) 28.

[lxvi] Vgl. den Beitrag von Andrea Albrecht in diesem Band.

[lxvii] Niko Andronikashvili, “Die ethische Konzeption von Aluda Ketelauri,” Sjani. Jahrbuch für Literaturtheorie des Schota-Rustaweli-Instituts für georgische Literatur der georgischen Akademie der Wissenschaften III (2002) 184-200, hier:187.

[lxviii] In den Kategorien von Turk: Margwelaschwili legt den Akzent auf das enactment gegenüber dem commitment und emplotment. Horst Turk, Philologische Grenzgänge. Zum Cultural Turn in der Literatur (Würzburg: Königshausen und Neumann, 2003) 140–158.

[lxix] Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Eds. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, (Stuttgart: Klett-Cotta, 1972) Bd. 1, VIII–XXVII.

[lxx] Vgl. dagegen Kafka zur verloren gegangenen Bedeutung der Gesten und Gleichnisse. Turk, Philologische Grenzgänge 163.

[lxxi] Walzer, “Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus” 161.

[lxxii] Siehe Anm. 63.

[lxxiii] Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France, 2. Dezember 1970. Trans. Walter Seitter (Frankfurt am Main [u.a.]: Ullstein, 1977).

[lxxiv] “[W]ir müssen es hier mit einer Art von geheimer, über unser gesamtes Themi eingesetzter, Wachmannschaft zu tun haben.” (12)

[lxxv] Margwelaschwili, Muzal 152.

[lxxvi] Die philosophisch aber auch narratologisch vielleicht interessantere ontologische Ebene der “Realköpfe” muss aus den Gründen des Textumfangs hier leider unberücksichtigt bleiben.

[lxxvii] Wörtlich eine obszöne Geste, die “weil ihr Daumen durch Zeige- und Mittelfinger gesteckt ist — einen abweisenden Ausdruck besitzt.” (21)

[lxxviii] Vgl. MacIntyre, “Ist Patriotismus eine Tugend?” Vgl. ebenfalls Taylor, Multikulturalismus.

[lxxix] Habermas, Einbeziehung des Anderen 258f.

[lxxx] Habermas, Enbeziehung des Anderen 260. Diese Pluralität der als Sujets verstandenen Lebensentwürfe kritisiert Michael Walzer: “Wir schaffen es nicht, uns zusammenzusetzen, um uns allseits verständliche Geschichten zu erzählen, und wir erkennen uns in den Geschichten, die wir lesen, nur dann wieder, wenn es sich um fragmentarische Schilderungen ohne Fabel handelt, d.h. um literarische Gegenstücke zur atonalen Musik und zur abstrakten Kunst.” Walzer, “Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus” 161.

[lxxxi] Honneth spricht von zwei Kriterien, die eine Rede vom Fortschritt ermöglichen können würden: “Wir haben es auf einer Seite mit einem Prozess der Individualisierung zu tun, also der Steigerung von Chancen der legitimen Artikulation von Persönlichkeitsanteilen, auf der anderen Seite mit einem Prozess der sozialen Inklusion, also der wachsenden Einbeziehung von Subjekten in den Kreis der vollwertigen Gesellschaftsmitglieder.” Axel Honneth, “Umverteilung als Anerkennung. Eine Erwiderung auf Nancy Fraser,” Umverteilung als Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Eds. Nancy Fraser, Axel Honneth (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003) 129–225, hier: 218.

[lxxxii] Vgl. Habermas: “Der gleiche Respekt für jedermann erstreckt sich nicht auf Gleichartige, sondern auf die Person des Anderen oder der Anderen in ihrer Andersheit. Und das solidarische Einstehen für den Anderen als einen von uns bezieht sich auf das flexible ‘Wir’ einer Gemeinschaft, die allem Substantiellen widerstrebt und ihre porösen Grenzen immer weiter hinausschiebt”. (Einbeziehung des Anderen, 7).

[lxxxiii] Muzals Traum wandelt das negative Urteil von Michael Walzer und Michael Sandel, wenn der eine von einer “Gemeinschaft von Fremden” und der andere von “ungebundenen” und kontextlosen Subjekten spricht, ins Positive. Julia Kristeva argumentiert aus einer ähnlichen Position: “Als Symptom, das gerade das wir problematisch macht, entsteht das Fremde, wenn in mir das Bewußtsein meiner Differenz auftaucht, und er hört auf zu bestehen, wenn wir uns alle als Fremde erkennen, widerspenstig gegen Bindungen und Gemeinschaften.” Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990) 11. Auch Kristeva verbindet die Fremdheit mit Bindungslosigkeit : “Keinem Ort zugehörig, keiner Zeit, keiner Liebe. Der Ursprung ist verloren, die Verwurzelung unmöglich; […] eine Gegenwart mit offenem Horizont. Der Raum des Fremden ist […] der jedes Anhalten ausschließende Transit selbst.” (17) Diese extreme individualistische Position mündet in einer “Utopie der Atopie”, deren Untersuchung den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde.

[lxxxiv] Ernest Renan, Was ist eine Nation? Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne mit einem Essay von Walter Euchner (Hamburg: Rowohlt, 1996) 35.