Saturday 23 May 2009

Tallent der illegitimen Freude. Zur Affektordnung des georgischen Festes


Zaal Andronikashvili

"Trajekte"  N 17  2008, S. 43-47. 

 


 

 

"Der Ritus des georgischen Festes", so der Philosoph Merab Mamardašvili, "enthält die ganze Struktur der Geschichte und des Lebens Georgiens".[1] Die kulturelle Praxis des Festes – auf Georgisch lxini  – wird im ersten Wörterbuch von Sulxan-Saba Orbeliani (1715) es als Freude durch Essen, Trinken und Gesang definiert. Etwa seit dem 19. Jahrhundert gilt sie als eine der wichtigsten Repräsentationsformen der georgischen Kultur:.

Dabei geht es aber gar nicht allein ums Essen, Trinken oder Singen, sondern vielmehr um die Herstellung einer außerordentlichen Situation, eines Kontextes, einer kollektiven Stimmung. Einerseits begleitet das Fest jedes Ereignis des Lebens, dem eine größere oder kleinere, eine religiöse oder säkulare Bedeutung beigemessen wird: Taufe, Hochzeit, Tod, kirchliche und private Festtage. Andererseits verleiht seine Struktur jedem Beisammensein den Status eines Ereignisses. Supra, wie das Fest heute heißt – ein Begriff der sowohl Freuden- als auch Trauerfeste mit einschließt – bedeutet auf Deutsch 'Tischdecke'. Jeder Ort, an dem Menschen sich um die supra zum Feiern versammeln, wird aus der alltäglichen Topographie herausgenommen und für die Zeit des Festes zu einem quasisakralen Raum gemacht.

Die religiöse Genealogie des Festes ist vielfältig: Sowohl Elemente des Sufismus, der islamischen Mystik, die den Wein als Metapher der Liebe zu Gott begreift, als auch die christliche Eucharistie mögen bei der Formung des Festrituals eine Rolle gespielt haben. Ende des 18. Jahrhunderts haben vermutlich die Ašuġen, wandernde Sänger und Dichter, die poetische Rede in das Fest eingeführt. Aus dieser Innovation könnte der Trinkspruch entstanden sein, der wie eine Lobrede strukturiert ist. Diese Erweiterung besiegelte die Transformation des Festes in die heute für traditionell gehaltene Form, die das Gastronomische mit dem Rhetorischen und Affektiven verbindet.

Am Anfang des Festes wird ein Tafelleiter (tamada) gewählt. Seine das Fest gliedernden Trinksprüche – sadġegrżelo, wörtlich übersetzt 'Wunsch für ein langes Leben'  – können je nach Anlass variieren und von anderen Teilnehmern ergänzt werden.

Alls Sujet verstehe ich dabei ein Organisationsprinzip kultureller Erfahrung, eine sinn- und zusammenhangsstiftende Ordnung des Geschehens, der Raumzeit und der Figuren.

 

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Die erste literarische Beschreibung des georgischen Festes finden wir in einem epischen Gedicht des romantischen Dichters und des größten Hedonisten seiner Zeit, Fürst Grigol Orbeliani (1804-1883): "Der Trinkspruch" (1827/70) erzählt von dem Fest, das georgische Offiziere der russischen Armee während des russisch-persischen Krieges nach dem Sieg bei Erewan 1827 veranstalten. Der erste Trinkspruch des Gedichts gilt den für das Vaterland gefallenen Helden:

 

"Die Geschichte ihrer Heldentaten füllen die Augen des Greises mit Tränen

den begeisterten Jüngling lassen sie zu seinem Schwert greifen".

 

Der nächste gilt dem Vaterland:

 

"Oh, Vaterland, wer nennt deinen Namen

ohne dass sein Herz mit begeisterter Freude schlage".[2]

 

In Orbelianis Gedicht dominiert der Affekt der Begeisterung, der alle Festteilnehmer ergreifen soll, die Alltagsrede wird dadurch in poetische Rede verwandelt. Die Hervorhebung mittelalterlicher ritterlicher Tugenden wie Heroismus, Freundschaft und Liebe sowie die Anrufung der Geschichte verwandeln das aristokratische Fest in einen Ort der Erinnerung, an dem das Mittelalter als goldenes Zeitalter inszeniert und es den Feiernden ermöglicht wird, sich selbst als die Heroen der Vergangenheit zu feiern.[3] Das Fest wird zu einem Ort der Verbindung einer narrativen Ordnung mit einer Affektordnung, wodurch einerseits die Vergangenheit, anderseits die Teilnehmer durch die Teilhabe an dieser Vergangenheit verklärt und idealisiert werden.

 

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Die von Orbeliani beschriebene Inszenierung der nationalen Narration ist nicht die einzig mögliche. Dasselbe Sujet, aber mit einem anderen Inhalt findet sich in dem Fest Tifliser Handwerker, q’aračoġelebi, so benannt nach dem Kleidungsstück q’ara čoxa ‚schwarzer Kaftan’. Der Schriftsteller Sergei Mesxi (1845-1883) beschreibt den q’aračoġeli als einen sorgenlosen, wie ein Vogel unbekümmerten Bon Vivant, der, um den Schriftsteller Ioseb Grišašvili (1889-1965) zu zitieren, "die besten Augenblicke seines Lebens beim Feiern verbringt".[4] Die Selbstrepräsentation der Tifliser Handwerker stimmt mit diesen Beschreibungen überein:

 

"Unsereiner wird wie ein Vogel geboren.

Was ich heute verdiene, gebe ich heute aus [...].

Wenn ich feiere, was stört’s Dich, mein Freund?

Was hast du an einem Betrunkenen auszusetzen?

Ich bin auch ein Mann, was schaust Du mich schräg an?

Ich bin auch ein ehrlicher Mensch [...]."[5]

 

Anders als bei Orbeliani stehen bei den Festen der q’aračoġelebi nicht nationale, sondern soziale und korporative Werte im Vordergrund der Inszenierung. Erst beim Feiern und nicht etwa beim Arbeiten kann ein q’aračoġeli repräsentieren und dadurch seine soziale Geltung zum Ausdruck bringen. Diese wird umgeformt zu einer Narration, die durch Trinksprüche, Gedichte und Lieder des q’aračoġelebi-Festes entsteht. So spricht ein q’aračoġeli zu seiner Geliebten:

 

"Schau mir in den Ortatschala-Gärten zu, dann siehst Du, wer ich bin.

Schau mir bei dem Bon-Vivant-Fest zu, dann siehst Du, wer ich bin.

Schau mir zu, wie ich mit einem Trinkgefäß die Tafel leite, dann siehst Du, wer ich bin.

Schau mir beim Boxkampf zu, dann siehst Du, wer ich bin.

Dann wirst du mich lieb haben und sagen, ,Du bist mein Schatz‘."[6]

 

Das Fest verklärt den q’aračoġeli und verleiht seiner Existenz Sinn und Bedeutung. Es ist aber auch der einzige Ort, der Aristokratie und Handwerker im Tiflis des 19. Jahrhunderts verbindet und gewissermaßen gleichsetzt.

 

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Die Affektordnung des georgischen Festes im 19. Jahrhunderts lässt sich auch am Beispiel der Schlussszene aus dem Film Sei nicht traurig (1969) des sowjetisch-georgischen Regisseurs Giorgi Danelia illustrieren. Der nach dem Tod seiner Tochter gebrochene Arzt und Lebemann Levan veranstaltet sein letztes Fest. Wenn er stirbt, soll nicht getrauert, sondern gefeiert werden. Bei diesem vorgezogenen Leichenschmaus fordert er seine Freunde auf, auf ihn zu trinken, als ob er bereits im Grab läge. Mit dem Trinkspruch unzufrieden, ergreift Levan selbst das Wort. Im Laufe des Festes mahnt Levan, inzwischen gestört von der übermäßigen Freizügigkeit seiner Gäste, diese zur Ruhe – die Totenfeier sollte nicht zu einem Bazar ausarten – und versucht, die Stimmung durch ein mittelalterliches Loblied zu verändern. Dieses mittelalterliche Lied, in dem die Gottesmutter mit dem blühenden Weingarten im Garten Eden verglichen wird, überführt eine freizügige Feier, einen "Bazar", endgültig in den Modus eines Rituals, indem es unter anderem religiöse Kontexte der Erlösung aktualisiert.

Zunächst geht es bei dem Fest darum, den richtigen verbalen Ausdruck für das der Situation entsprechende Gefühl zu finden. Das Verhältnis von Ausdruck und Gefühl ist aber reziprok: Die rhetorische Form des Trinkspruchs beschwört ihrerseits Affekte herauf, stellt die richtige Stimmung her und steigert sie. Der Gesang übernimmt hierbei eine ergänzende Rolle, er kann den Trinkspruch kommentieren, ergänzen, seinen Affekt steigern, aber auch subvertieren.

Eine harmonische Ordnung der Rede war bereits in der dichtungstheoretischen Schrift Vom Erhabenen des Pseudo-Longinos (1. Jh. n. Chr.) nicht nur "ein natürliches Mittel zur Überredung und Ergötzung", sondern "wunderbares Instrument für erhabenen Ausdruck und pathetische Rede". Dabei geht es nicht – oder nicht nur – um die Semantik, sondern um die Aufladung mit Affekten, Entzückung und "rauschhafte Taumel". Die "Mischung und Vielfalt" des Rhetorischen und Rhythmischen, Musikalischen und Affektiven der Rede flößt "die im Redner herrschende Leidenschaft den Seelen der Hörer" ein und zwingt sie "stets zum Miterleben".  Sie „bezaubert“ den Zuhörer und stimmt ihn „zur Größe, Würde, Erhabenheit “ ein und überwältigt auf diese Weise sein Denken.[7] Die Affektordnung des georgischen Festes ist keine kathartische, im Sinne der Abfuhr der Affekte, von Furcht und Mitleid. Die Verklärung wird durch die Begeisterung und das Entzücken erreicht, die durch die Erfahrung des Erhabenen ausgelöst werden. Liebe, Freundschaft, Lust und Trauer werden durch die rhetorisch und musikalisch vermittelte Begeisterung ins Erhabene transformiert.

 

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Als "klingende Note der Freude", als "Herausforderung des Schicksals und sich selbst" beschreibt Mamardašvili das georgische Fest. Die georgische Kultur versteht er als Trägerin eines "Talents der illegitimen Freude: […] es gibt vielleicht gar keinen Grund froh zu sein, und wir feiern trotz allem".[8] "Die Essenz des georgischen Festes", so der Literaturwissenschaftler Guram Asatiani, "ist die Inszenierung des Glücks".[9] Für ihn besteht die Struktur dieses Spektakels in der Überwindung der Differenz zwischen dem Idealen und dem Realen. Der Trinkspruch[10] beim georgischen Fest kompensiert einen Mangel, sei dieser nationaler (Orbeliani), sozialer (q’aračoġelebi) oder individueller (Danelia) Art, indem er eine heroisierende Narration im affektiven Modus des Erhabenen inszeniert. Der Mensch, auf dessen Wohl getrunken wird, wird dabei in der Regel idealisiert: Ihm wird ein verbales Denkmal gesetzt. Wenn der Trinkspruch als eine Art des Segens bzw. der gesellschaftlichen Kanonisierung gilt, so kann der tamada als eine säkularisierte Form des Priesters angesehen werden, der den Segen spendet.

Das georgische Fest versucht durch seine Form der Repräsentation den Tod, das Nichtsein, das Vergessen (eines Menschen, einer Korporation, einer Gesellschaft, eines Volkes) in der Verklärungs- und Erlösungsinszenierung zu überwinden. Obwohl in dieser Repräsentation eine Antirepräsentation[11] als ein Memento mori immer mit eingeschrieben wird – bei jeder Inszenierung des Glückes wird Trauer miteinbezogen – feiert die Gesellschaft ihre eigene Unsterblichkeit, aber unverdient, gewissermaßen auf Kredit. Das Fest absorbiert alle sozialen Funktionen des Menschen insofern, als von ihm keine weitere soziale Handlung außerhalb dieser Inszenierung erforderlich ist. Das Leben wird zu einem theatralisierten eschatologischen Fest. So verschiebt sich die im georgischen Fest angelegte Erlösungsmetapher in die Metapher der Homöostase, der Nichttransformierbarkeit und Selbstherrlichkeit der Gesellschaft.

 


[1] Merab Mamardašvili: Лекции о Прусте. Психологическая топология пути [Vorlesungen über Proust. Psychologische Topologie des Weges], Moskau 1995, S. 522.

[2] Grigol Orbeliani: Txzulebebis sruli krebuli [Gesammelte Werke], Tbilisi 1959, S. 98-99.

[3] "Legenden, kollektives Wissen, das historische Gedächtnis" werden, so Mamardašvili (Vorlesungen, S. 8.), "täglich bei einem Fest inszeniert".

[4] Ioseb Grišašvili: "Zveli Tbilisis literaturuli bohema" [Die literarische Boheme des atlen Tbilissi] in: Ders., TxzulebaTa krebuli xuT tomad [Gesammelte Werke in fünf Bänden], Bd. 3, Tbilissi 1965, S. 182.

[5] Zitiert nach Grišašvili: Werke, S. 182.

[6] Orbeliani: Werke, S.66.

[7] Longinus: Vom Erhabenen. Griechisch und Deutsch. Übers. und hg. von Otto Schönberger, Stuttgart 2002, 39 1-3 (S. 94-95).

[8] Merab Mamardašvili: "Вена на заре XX века” [Wien der Jahrhundertwende] in: Ders.: Как я понимаю философию [Philosophie in meinem Verständnis], Moskau 1992, S. 400.

[9] Guram Asatiani: saTaveebTan. ramdenime cda kartuli xasiaTisa da esTetikuri bunebis gasarkvevad [Bei den Ursprüngen. Einige Versuche zur Klärung des georgischen Charakters und der ästhetischen Natur], Tbilisi 1982, S. 37.

[10] Levan Bregaże: "sadRegrZelo da misi kompensatoruli buneba" [Der Trinkspruch und seine kompensatorische Natur] in: Gia Nodia: qarTuli sufra da samoqalaqo sazogadoeba[Das Georgische Fest und die Zivilgesellschaft], Tbilisi 2000, S. 9-15.

[11] Als eine Antirepräsentation bezeichnet Belting "die Repräsentation, […] die im gleichen Medium kritisiert und entkräftet wurde". Hans Beliting: "Repräsentation und Anti-Repräsentation. Grab und Porträt in der frühen Neuzeit" in: Hans Belting/ Dietmar Kamper/ Martin Schulz (Hrsg.): Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation, München 2002, S. 29-52, hier S. 31.

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